c't 2/2023
S. 36
Aktuell
Medien in Brasilien

Bolsonaros verheerendes Erbe

Brasilien: Lula weckt Hoffnung auf mehr Pressefreiheit

Am 1. Januar löst Luiz Inácio Lula da Silva den bisherigen Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien ab. Dessen Regierung hatte die Arbeit von Journalisten in und außerhalb des Internets mit Gewalt, Hetze und Desinformation bekämpft. Ein Überblick von Reporter ohne Grenzen zeigt, wie groß die Herausforderungen für Lula sind, die Pressefreiheit in Brasilien zu verbessern.

Von Juliane Matthey

Nach vier Jahren Amtszeit hat die Regierung des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro nicht nur im Regenwald ein Bild der Verwüstung hinterlassen. Auch die Pressefreiheit geriet unter Beschuss: Kritische Journalisten wurden mit orchestrierten Hetzkampagnen gedemütigt und stigmatisiert. Diese Attacken gingen sowohl von Bolsonaro selbst und seinem engsten Umfeld als auch von seiner Anhängerschaft aus.

Behörden verweigerten Journalisten Informationen und die Regierung missbrauchte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Propagandazwecken. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rutschte Brasilien seit 2018 von Platz 102 auf Platz 110 von 180 Staaten ab.

Besonders zugenommen hat unter Bolsonaro die Onlinehetze gegen Medienschaffende – vor allem gegen Frauen. Der prominenteste Fall ist der der Journalistin Patricia Campos Mello. Sie hatte im Wahlkampf 2018 aufgedeckt, dass Geschäftsleute eine Desinformationskampagne via WhatsApp für Bolsonaro finanziert hatten. Bei der späteren Untersuchung bezeichnete das oberste Wahlgericht Brasiliens die Kampagne als „ein illegales Schema zur Verbreitung von Falschnachrichten“. Als ein Parlamentsausschuss diese Vorwürfe im Februar 2020 aufarbeitete, verbreiteten Bolsonaro, sein Sohn Eduardo und weitere Politiker die Behauptung, Campos Mello habe ihre Informationen für sexuelle Gefälligkeiten erhalten.

Dies trat eine Cybermobbing-Welle von sexualisierten, frauenverachtenden Beleidigungen und Drohungen gegen Campos Mello los, die so weit ging, dass die Journalistin einen Leibwächter brauchte und sich später entschied, nicht mehr von Pro-Bolsonaro-Demonstrationen zu berichten. Zahlreiche andere Journalistinnen fühlen sich ständig bedroht, einige schlossen ihre Social-Media-Accounts. Zum Welttag gegen Internetzensur setzte Reporter ohne Grenzen Bolsonaro und sein von der Nichtregierungsorganisation tituliertes „Hasskabinett“ am 12. März 2020 auf seine Liste der weltweiten „Feinde des Internets“.

Während einer Präsidentschaftsdebatte des Fernsehsenders Bandeirantes las der spätere Wahlsieger Lula (links) im Wahlkampf dem inzwischen abgelösten Bolsonaro die Leviten., Bild: Marcelo Chello/AP/dpa
Während einer Präsidentschaftsdebatte des Fernsehsenders Bandeirantes las der spätere Wahlsieger Lula (links) im Wahlkampf dem inzwischen abgelösten Bolsonaro die Leviten.
Bild: Marcelo Chello/AP/dpa

Hetzkampagnen online

Im Präsidentschaftswahlkampf 2022 nahm die Intensität der Aggression weiter zu. Allein im ersten Monat des offiziellen Wahlkampfs ab Mitte August zählte Reporter ohne Grenzen 2,8 Millionen Posts mit anstößigen oder aggressiven, gegen Journalisten gerichteten Inhalten. Besonders viele griffen weibliche Medienschaffende an, allen voran die Fernsehmoderatorin und Kolumnistin Vera Magalhães mit knapp 27.000 Hassmeldungen.

Die Desinformation in sozialen Medien hat in Brasilien unter Bolsonaro einen überwältigenden Einfluss auf die öffentliche Debatte gewonnen. Dies begann schon im Wahlkampf 2018 mit der erwähnten illegalen Desinformationskampagne über WhatsApp – der wichtigsten Nachrichtenquelle für viele Brasilianer. Ähnlich wie Donald Trump in den USA verbreitete Bolsonaro seine Version der Wahrheit lieber über Social Media, anstatt den unbequemeren Umweg über die klassischen Medien zu gehen.

Die US-amerikanischen Betreiber der großen sozialen Netzwerke setzten dem wenig entgegen: YouTube löschte etwa im September 2021 insgesamt 15 Videos von Bolsonaros Kanal – aufgrund von Falschinformationen zur Pandemie. Twitter und Facebook mussten im Juli 2020 mit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs Brasiliens zur Sperrung von 16 Konten hochrangiger Bolsonaro-Anhänger wegen „andauernder Verbreitung von Fake News“ gezwungen werden.

Die Hetzkampagnen im Cyberspace hatten Folgen in der Realität: Physische Gewalt bis hin zu Morden an Journalisten sind in Brasilien zwar kein neues Phänomen; die Zahlen stiegen unter Bolsonaros Präsidentschaft jedoch rapide an. Laut der Journalistengewerkschaft Abraji erhöhte sich die Zahl der „schweren Fälle“ – also körperliche Angriffe, Einschüchterung, Drohungen und Beschlagnahme oder Zerstörung von Ausrüstung – vom 1. Januar bis 17. November 2022 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 89 Prozent auf 153.

Bolsonaro kritisierte keinen dieser Fälle. Als im Juni der Journalist Dom Phillips und sein Begleiter Bruno Pereira bei ihrer Recherche zur Abholzung und zum Landraub im Amazonasgebiet ermordet wurden, gab Bolsonaro den Opfern selbst die Schuld. Ihre investigative Recherche im Regenwald sei ein „Abenteuer, das man niemandem empfehlen kann“.

Der Journalist Dom Philips (links) und der Indigena-Experte Bruno Pereira wurden 2022 bei Recherchen im Amazonas ermordet. Im Wahlkampf forderten Anhänger des später gewählten Präsidenten Lula „Gerechtigkeit für Dom und Bruno“., Bild: Silvia Izquierdo/AP/dpa
Der Journalist Dom Philips (links) und der Indigena-Experte Bruno Pereira wurden 2022 bei Recherchen im Amazonas ermordet. Im Wahlkampf forderten Anhänger des später gewählten Präsidenten Lula „Gerechtigkeit für Dom und Bruno“.
Bild: Silvia Izquierdo/AP/dpa

Akten unter Verschluss

Aufgrund der hohen Konzentration privater Medienunternehmen – zehn Konglomerate im Besitz von zehn Familien mit großer Nähe zu Politik und Kirchen teilen quasi den gesamten Medienmarkt unter sich auf – spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine umso wichtigere Rolle in Brasilien. Unter Bolsonaro wandelte er sich aber immer weiter zu einem Propagandawerkzeug der Regierung.

So beschwerten sich Mitarbeiter, sie dürften die brasilianische Militärdiktatur von 1964 bis 1985 nicht mehr als solche benennen, allenfalls der Begriff „Militärregime“ war erlaubt. Oppositionspolitiker bekamen kaum noch Sendezeit. Dies galt sowohl im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf für den Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva als auch für den Gouverneur von São Paulo, João Doria, in der Frühphase der Corona-Pandemie. Er hatte Bolsonaro für dessen Pandemiemanagement kritisiert und eigenhändig die ersten Impfdosen aus China importiert.

Zugleich erschwerte Bolsonaro Journalisten den Zugang zu sonst öffentlichen Informationen. Per Dekret verfügte er, dass verschiedene Dokumente mit kompromittierenden Details über ihn, seine Familie und seinen Umgang mit der Corona-Pandemie für hundert Jahre unter Verschluss bleiben sollen. Die für geheim erklärten Informationen reichen von seinem persönlichen Impfstatus bis hin zur informellen Einbeziehung seiner Söhne in die katastrophale Coronapolitik des Landes.

Die Pandemie kostete in Brasilien fast 700.000 Menschen das Leben. Weil es unmöglich war, verlässliche Informationen von der Regierung zu bekommen, schlossen sich mehrere Medienunternehmen im Sommer 2020 zusammen, um belastbare Zahlen zu Infektionen und Todesfällen zu ermitteln.

Die Wahrheit gewinnt

Öffentliche Gegeninformation war unter diesen Bedingungen schwierig zu organisieren. Reporter ohne Grenzen antwortete mit der Kampagne „The Truth Wins“. Dazu nutzte die Organisation die Gewinnzahlen der nationalen Lotterien in Brasilien, aber auch in Russland und der Türkei, als Zugangscode für unabhängige Nachrichten: Wenn Nutzer auf Twitter nach den jeweils aktuellen Gewinnzahlen suchten, landeten sie auf den Konten der Kampagne und bekamen kritische Meldungen sowie Artikel von Medienschaffenden zu lesen, die zur Zielscheibe ihrer Regierungen geworden waren.

Mit Unterstützung prominenter Journalistinnen wie Patricia Campos Mello erreichte die brasilianische Kampagne mehr als 600.000 Follower. Reporter ohne Grenzen hätte sich in dem mit 214 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas größeren Zuspruch gewünscht, konnte durch die inzwischen beendete Twitter-Kampagne aber immerhin die öffentliche Debatte um Themen wie Onlinehetze und Desinformation verbreitern.

Mit der Twitter-Kampagne „The Truth Wins“ baute Reporter ohne Grenzen eine Gegenöffentlichkeit auf, die in Brasilien 600.000 Follower erreichte., Bild: Reporter ohne Grenzen
Mit der Twitter-Kampagne „The Truth Wins“ baute Reporter ohne Grenzen eine Gegenöffentlichkeit auf, die in Brasilien 600.000 Follower erreichte.
Bild: Reporter ohne Grenzen

Herausforderungen für Lula

Mit Beginn seiner neuen Amtszeit warten also große Herausforderungen auf Präsident Lula. Aus Sicht von Reporter ohne Grenzen muss seine Regierung einen Kommunikationsstil reaktivieren, der die unabdingbare Rolle kritischer Medien in einer Demokratie würdigt und sie nicht als Staatsfeinde stigmatisiert. Dies hätte viel mehr als nur symbolische Bedeutung: Eine Verurteilung von Gewalt gegen Journalisten – egal ob physischer oder verbaler Natur, im Alltag oder in den sozialen Medien – kann zu einem Abbau der Aggressivität und Verrohung in der Gesellschaft beitragen.

Zweitens muss Lula die Autonomie und redaktionelle Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wiederherstellen und die Zugangsbeschränkungen zu Dokumenten und Informationen aufheben. Die schwierigste Aufgabe wird jedoch der Kampf gegen Hetzkampagnen und Desinformation in den sozialen Medien. Sie werden mit Bolsonaros Abtritt nicht verschwinden. Zu befürchten ist, dass sie auf hohem Niveau verharren oder sogar zunehmen.

Eine wichtige Maßnahme dagegen wäre eine demokratisch legitimierte Regulierung von Inhalten auf Onlineplattformen. Die Bolsonaro-Regierung hatte bereits einen Gesetzesentwurf verfasst, der eine solche Regulierung der Onlineplattformen verhindern sollte. Mit Lulas Wahlsieg ist dieses Gesetz nun immerhin gestoppt. Die Regierung muss sich nun ein neues Gesetz überlegen, das die Betreiber der Onlineplattformen stärker in die Pflicht nimmt. (hag@ct.de)

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