c't 3/2021
S. 140
Wissen
20 Jahre Wikipedia
Bild: Thorsten Hübner

Die Wissensquelle

Wikipedia wird 20 Jahre alt

Wikipedia steht nicht nur in Zeiten von Fake-News-Schwemmen für verlässliche Informationen. Das liegt, trotz aller internen Reibereien, an ihrer sehr eigenen Organisationsstruktur. Doch die Online-Enzyklopädie muss sich immer wieder neu erfinden.

Von Torsten Kleinz

Was genau ist ein mRNA-Impfstoff? Wie sieht die Stiftebelegung eines USB-C-Steckers aus? Und wer zum Teufel ist eigentlich „der Wendler“? Antworten auf diese und abertausende andere Fragen liefert Wikipedia, die am 15. Januar ihren 20. Geburtstag feiert – oder Google, das einfache Fragen auf seinen Suchergebnisseiten gerne direkt mit Kurzfassungen von Wikipedia-Artikeln beantwortet.

Dass ein Web-Portal überhaupt seinen 20. Geburtstag feiert, kann angesichts des Schicksals vieler früher Online-Giganten als Erfolg gewertet werden – man denke nur an MySpace, Napster oder Netscape. Wikipedia hat nicht nur überlebt, sondern wächst immer weiter. Bis heute hat die Online-Enzyklopädie über 50 Millionen Artikel in 285 Sprachen angesammelt. Allein die englische Wikipedia verzeichnet pro Monat 10 Milliarden Seitenabrufe, die deutsche Ausgabe immerhin eine Milliarde. Aktuell liegt Wikipedia laut dem Statistikdienstleister Alexa auf Platz 13 der Top-Websites weltweit.

Jeder liest Wikipedia

In Zeiten der Krise zeigt sich, wie wichtig Wikipedia ist. Anbieter sozialer Medien wie Facebook und YouTube kommen mit ihren Bemühungen, Fehlinformationen und absurde Verschwörungstheorien rund um Covid-19 von ihren Plattformen zu verbannen, kaum hinterher. Auch bei Wikipedia wird immer wieder versucht, solche falschen Informationen unterzubringen. Die Autoren der Enzyklopädie sorgen allerdings dafür, dass Fehlinformationen in der Regel eine kurze Halbwertszeit haben. Und während andere nutzerfinanzierte Projekte an einer nachhaltigen Finanzierung scheitern, sammelt die Wikimedia Foundation Jahr für Jahr mit ihren Spendenbannern knapp 100 Millionen Dollar ein, die sie zum Betrieb der Enzyklopädie benötigt.

Je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet, ist Wikipedia ein Riese oder ein Zwerg. So arbeiten gerade einmal 450 Mitarbeiter für die Wikimedia Foundation. Für eine Organisation, die sich für freies Wissen engagiert, ist das eine große Zahl, für eine der 20 meist aufgerufenen Websites der Welt jedoch recht wenig. Bei der Nummer 14 auf der Liste, dem Videokonferenzhersteller Zoom, arbeiten sechsmal so viele Angestellte. Auch die aktive Wikipedia-Community mit ihren 300.000 Autoren ist im Vergleich zu Plattformen wie YouTube oder Reddit eher klein.

Groß ist jedoch der Fußabdruck, den die Wikipedia quer durch das Internet und in der Gesellschaft hinterlässt. Denn man muss längst nicht mehr in ihr lesen, um Wikipedia-Inhalte serviert zu bekommen. Nicht nur Google, auch Assistenten wie Siri, Alexa und Google Home bedienen sich bei der Online-Enzyklopädie. Die Wikipedia gilt als allgemein anerkannte Quelle für vertrauenswürdiges Wissen: Schüler verlassen sich bei ihren Recherchen auf Wikipedia, Journalisten nutzen sie zumindest als erste Quelle für weitergehende Recherchen und sogar mancher Richter zitiert in seinen Urteilen die Enzyklopädie.

Nicht nur bei aktuellen Ereignissen wie der Coronapandemie hat Wikipedia den Ruf einer verlässlichen Informationsquelle.

Ein Kind seiner Zeit

Als Wikipedia am 15. Januar 2001 online ging, ahnte niemand, was aus dem Projekt werden würde. Jimmy Wales und Larry Sanger hatten zuvor bereits eine Online-Enzyklopädie gestartet, die Nupedia. Dort war der Veröffentlichung von Artikeln ein aufwendiger Peer-Review-Prozess vorgeschaltet, sodass sie viel zu langsam wuchs.

Daher warfen Wales und Sanger bei Wikipedia alle Bürokratie über Bord und setzten ein Wiki ohne jede Zugangsbeschränkung oder formale Prozesse ins Netz: ein Experiment ins Blaue, mit gigantischem Erfolg – in nur zwei Jahren hatte Wikipedia 100.000 englische Artikel angesammelt, die erste Million wurde 2006 geknackt.

Dieser Erfolg wurde durch eine – im Prinzip – radikal egalitäre Struktur möglich. Bis heute kann quasi jeder Internetnutzer ohne einen Namen oder auch nur eine E-Mail-Adresse anzugeben an Wikipedia mitarbeiten. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass erfahrenere Wikipedia-Autoren und Administratoren die ersten Versuche von Neulingen sofort wieder löschen, aber von dem Grundprinzip der Offenheit will die Community nicht abweichen.

Wikipedia kam auch zugute, dass ihre Seiten gut in den Suchergebnissen von Google rankten, der Suchmaschine, die parallel zur Enzyklopädie schnell populär wurde. Die beiden Plattformen ergänzen einander in vielerlei Hinsicht ideal. Googles Pagerank-Algorithmus bewertet Angebote als besonders wertvoll, wenn sie oft verlinkt werden. Und eines der Grundprinzipien eines Wikis ist es, Inhalte untereinander zu verlinken und zu verknüpfen. Anders als andere damals populäre Frage-Antwort-Portale war und ist Wikipedia zudem nicht auf Klick-Maximierung, sondern auf eine konsistente Struktur ausgelegt.

Die Entscheidung für das heutige Finanzierungsmodell mit der Wikimedia Foundation als Trägerin fiel nicht aus voller Überzeugung der Gründer. So wäre es prinzipiell auch möglich gewesen, dass sich Wikipedia zu einem von Dutzenden kommerzieller Wissensportale entwickelt hätte. Doch die Online-Enzyklopädie entstand, als die Dotcom-Blase platzte. Nach dem großen Crash im Jahr 2000 erschien es nicht mehr als vielversprechendes Geschäftsmodell, Wikipedia kommerziell zu betreiben.

Daher wurde 2003 die Wikimedia Foundation gegründet, eine gemeinnützige Gesellschaft nach US-amerikanischem Recht. Sie beschafft und verwaltet die Gelder für den Betrieb der Wikipedia und ihrer Schwesterprojekte, sie hält die Namensrechte und betreibt die Server. Das wichtigste Gremium ist das Kuratorium, das Board of Trustees. Es besteht aus drei von der Community gewählten Mitgliedern, zwei von den nationalen Organisationen (Chaptern) ausgewählten Vertretern, vier vom Board selbst bestellten Mitgliedern und dem vom Board jährlich zu bestätigenden Gründer Jimmy Wales. Letztlich wäre aber die Wikipedia und die Wikimedia Foundation nichts ohne die Tausenden Freiwilligen. Sie haben auch über die drei Vertreter hinaus großen Einfluss.

Wikipedia-Schwester­projekte: In den ersten Jahren des Wachstums erschien das Wikiprinzip als Universalrezept für alles geeignet. Der Erfolg der Wikipedia ist aber einmalig geblieben.

Erzwungene Qualitätsinitiative

Mit ihrer zentralen Position im Internet ist Wikipedia zum Ort ständiger Auseinandersetzungen geworden. Unternehmen bezahlen PR-Firmen, um die sie betreffenden Artikel in Werbestrecken zu verwandeln. Ideologen aller Art versuchen, einschlägigen Artikeln ihren Stempel aufzudrücken. Hinzu kommt eine unüberschaubare Zahl von Trollen, die es nicht lassen können, Penisbilder hochzuladen oder ein verfeindetes Sport-Team per Wikipedia zu beleidigen. Die ultimative Belohnung für das Trollen: Ab und an wird ein solches Bild oder eine Beleidigung automatisch von Google übernommen und prominent auf der Suchergebnisseite platziert.

Inhaltliche Kontroversen gehören bei Wikipedia zum Tagesgeschäft. In einzelnen Fällen gingen sie jedoch weiter und veränderten die Plattform nachhaltig. Eine solche Zäsur in der Wikipedia-Geschichte bildete der Fall Seigenthaler im Jahr 2005. Der angesehene US-Journalist John Seigenthaler hatte bemerkt, dass seine Wikipedia-Biografie eine absurde Beschuldigung enthielt: Er sei einer der Verdächtigen beim Mord am US-Präsidenten John F. Kennedy und dessen Bruder gewesen.

Der damals 78-Jährige echauffierte sich öffentlich über diesen „Rufmord“ und appellierte sogar an den Kongress, die Haftungsregeln für Internetportale zu verschärfen. Für die Wikipedianer, die bisher fast nur äußerst positive Berichterstattung gewohnt waren, war dies ein Schock. Jimmy Wales verordnete Wikipedia ein Qualitätsprogramm und schränkte die Möglichkeit für unregistrierte Nutzer ein, neue Artikel anzulegen.

Die Community zog mit. Seither wurden immer neue Features eingeführt, um die Qualität der Wikipedia zu heben. So entwickelten es einige Wikipedianer zum Sport, Artikel zum „Exzellenz“-Status anzuheben, und wetteiferten um den Status als profilierteste Wikipedia-Autoren. Zudem wurden Inhalte unter eine strengere Beobachtung gestellt: Autoren schlossen sich etwa zu Redaktionen zusammen, um alle Artikel in einem bestimmten Feld wie Informatik oder Sexualität im Auge zu behalten oder auf ein einheitliches Wissensniveau zu heben.

Die Software wurde angepasst: Anonyme Änderungen können zurückgehalten werden, bevor sie für die breite Öffentlichkeit zu lesen sind. Heute müssen Nutzer mindestens zwei Monate aktiv mitgearbeitet haben und mindestens 200 Änderungen an Artikeln vorgenommen zu haben, um den „Sichterstatus“ in der deutschen Wikipedia zu erlangen. Erst dann werden Änderungen sofort für die Öffentlichkeit freigeschaltet.

Trotz aller Bemühungen schaffen es immer wieder Hoaxes, die Qualitätsmechanismen der Wikipedia zu umgehen. So wurde 2019 aufgedeckt, dass ein in Wikipedia beschriebenes Vernichtungslager in Warschau nicht existiert hatte. Es war einer der langlebigsten Hoaxes in der Enzyklopädie: Der Artikel war 2004 angelegt worden.

Chaotischer Aufstieg und Konsolidierung

Parallel zum Ringen um die Inhalte der Wikipedia gab es immer auch Spannungen innerhalb der Autorenschaft und zwischen der Autoren-Community und der Foundation über die Ausrichtung und die technische Ausgestaltung. In den frühen Jahren experimentierten Community und Foundation viel mit Schwesterprojekten wie dem Nachrichtenportal Wikinews oder dem Bildungsportal Wikiversity.

Ergebnis ist eine bis heute dauernde, kaum zu durchschauende technische und soziale Struktur. Die wild gewucherte Wiki-­Syntax etwa bremste eine konsequente Weiterentwicklung der Plattform-Software MediaWiki über Jahre aus. Einen Visual Editor einzuführen, der Wikipedia-Anfängern das Schreiben erleichtern sollte, dauerte letztlich zehn Jahre.

Wie Entscheidungen getroffen werden, etwa um Relevanzkriterien zu verändern, ist (bis heute) selbst für Wikipedia-Experten nicht immer ersichtlich. Interne Diskussion der Wikipedianer zerfaserten gerne mal über Dutzende von Mailinglisten und Wikipedia-Diskussionsseiten – sehr ineffektiv und ermüdend. Zwar gab es Abstimmungen. Wenn sich dann aber keine Freiwilligen fanden, die den Beschluss auch konsequent umsetzen, liefen diese mitunter ins Leere. Das interne Diskussionsklima wurde zeitweise recht aggressiv. Das schreckte zwar viele Trolle und PR-Arbeiter ab. Nutzer, die konstruktiv mitarbeiten wollten, wurden aber ebenso vertrieben. So sank die Zahl der aktiven Autoren zeitweise beträchtlich.

Immer wieder kam es zu Spannungen zwischen der Wikimedia Foundation und der Autoren-Community. Zwei Beispiele für das dauerhaft angespannte Verhältnis: Die Community versuchte mit allen Mitteln, einen neuen Media Viewer zu blockieren, den die Foundation entwickelt hatte. Die Wikimedia Foundation musste schließlich zum letzten Mittel greifen und den neuen Viewer mit ihren Administratorrechten im Projektserver durchsetzen. 2016 wiederum zeigte die Wikipedia-­Community ihre Macht, indem sie den ehemaligen Google-Manager Arnnon Geshuri zum Rückzug aus dem Kuratorium der Wikimedia Foundation zwang.

Unter der Ägide der heutigen Wikimedia-Chefin Katherine Maher haben sich Stiftung und Autoren-Community wieder zusammengerauft. Es bleiben aber zum Teil tiefe Vorbehalte gegen das Wikimedia-Kuratorium, auch wenn die Community per Wahl einzelne Vertreter entsenden darf. Derzeit bemüht sich die Wikimedia Foundation darum, besonders Gruppen, die bisher kaum zu Wort kamen, zur Mitarbeit in Wikipedia zu motivieren. Dazu wurde die Oberfläche renoviert: Heute muss man keine Wiki-Syntax mehr lernen, um Artikel zu schreiben – und es gibt sogar eine Dankes-Funktion, um Anerkennung für wertvolle Beiträge zu zollen.

Wikidata erschließt die Informationen so, dass man sich mit einer Suchanfrage alle Standorte von Bildern des Malers Vermeer auf einer Karte anzeigen lassen kann.

Abstrakte Zukunft

Unterdessen arbeiten Wikimedia und Wikipedia an der Zukunft. Das 2008 gestartete Projekt Wikidata sammelt das Weltwissen nicht mehr in Form von Enzyklopädie-Artikeln, sondern als Sammlung von einzelnen Fakten-Statements. Bisher hatte diese Plattform eher einen Hilfs­charakter für Wikipedia: Über Wikidata werden etwa die Links zwischen den unterschiedlichen Sprachversionen der Wikipedia verwaltet und automatisch offizielle Angaben wie die Einwohnerzahlen von Städten importiert. So bleibt den menschlichen Wikipedia-Autoren viel dumpfe Tipparbeit erspart.

Nun könnte Wikidata aber aus dem Schatten der Wikipedia heraustreten. Der Ur-Wikipedianer Denny Vrandecic ist 2020 von seiner Arbeitsstelle bei Google zur Wikimedia Foundation gewechselt, um die nächste Stufe des Projekts zu zünden: Abstract Wikipedia. Mithilfe der Querbeziehungen von Wikidata-Einträgen soll es künftig möglich sein, Antworten auf spezifische Fragen oder gleich vollständige Artikel automatisch zu verfassen: „Da Wikidata konzeptionelle Modelle verwendet, die über Sprachen hinweg universell sein sollen, sollte es möglich sein, diese Wissensbausteine zu verwenden und zu erweitern, um Modelle für Artikel zu erstellen, die ebenfalls universellen Wert haben“, schrieb Wikimedia-Chefin Katherine Maher in einem Post zum Start des Projekts.

Ob das neue Projekt die Zukunft ist oder in wenigen Jahren wieder zwischen den vielen Schwesterprojekten verschwindet, kann heute niemand abschätzen. Auch 20 Jahre nach Gründung der Wikipedia ist klar: Die Tage von Trial & Error sind noch lange nicht vorbei. (jo@ct.de)

Erwähnte Projekte: ct.de/ybu1

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