Wie Strafgefangene per VR das Leben in Freiheit lernen

In Justizvollzugsanstalten werden Simulatoren eingesetzt, um inhaftierten Personen einen lebensnahen Unterricht zu ermöglichen. Aber funktioniert das?

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Vergitterter Gang in einem Gefängnis, rechts Zellentüren

(Bild: gemeinfrei)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Daliah Singer
Inhaltsverzeichnis

Atorrus Rainer, 41 Jahre alt, befindet sich gerade in der Mitte eines stickigen Raumes, über ihm brennt eine Leuchtstoffröhre. Ein Virtual-Reality-Headset bedeckt seine Augen wie eine überdimensionale Brille. Von Zeit zu Zeit streckt er den Arm aus und benutzt einen VR-Controller in der Hand, um während eines simulierten Supermarktbesuchs Mülltüten, eine Zahnbürste und Toilettenpapier einzusammeln.

Das Erleben dieser virtuellen Welt ist begrenzt – Rainer muss sich an eine vorher geschriebene Einkaufsliste halten und kann nur bestimmte Bereiche in dem ansonsten leeren Laden ansteuern. Trotzdem überwältigt ihn die schiere Anzahl der verfügbaren Produkte auch in dieser digitalen Welt noch. Das gilt auch für die Selbstzahlerkassen, die es 2001 noch nicht gab, als Rainer als Teenager zu mehr als 100 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Seine erste Erfahrung mit solchen Geräten ist diese virtuelle Interaktion. Sie findet in der Fremont Correctional Facility statt, einem Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe, das etwa zwei Stunden südlich von Denver liegt.

Rainer übt in der Hoffnung, in naher Zukunft ein echtes Geschäft betreten zu können. Dabei soll ihm eine Initiative helfen, die 2017 in Colorado als Reaktion auf Urteile des Obersten Gerichtshofs der USA ins Leben gerufen wurde. Lebenslange Haftstrafen für Jugendliche ohne Bewährung sind demnach verfassungswidrig. Personen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen – zum Beispiel, dass sie unter 21 Jahre alt waren, als sie Straftaten begangen haben und mindestens 20 bis 30 Jahre inhaftiert waren–- können sich für ein dreijähriges Projekt bewerben. Es nennt sich "Juveniles and Young Adults Convicted as Adults Program" (JYACAP) und soll ihnen bestenfalls eine Entlassung auf Bewährung ermöglichen.

Bei JYACAP geht man davon aus, dass das Erlernen grundlegender Fähigkeiten, die sie während ihrer Haft nicht erwerben konnten, diesen Gefangenen bei ihrer Entlassung die besten Chancen auf Erfolg bietet. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Aufgrund von Sicherheitsbedenken haben sie nur begrenzten Zugang zum Internet. Obwohl die Verurteilten jetzt erwachsen sind, haben viele von ihnen noch nie ein Smartphone oder einen Laptop benutzt oder auch nur gesehen. Sie waren auch noch nie im Leben im Besitz einer Kreditkarte. "Wir mussten einen Weg finden, um ihnen die Möglichkeiten in einem eingeschränkten Umfeld anzubieten", sagt Melissa Smith, Interimsdirektorin für den Bereich Gefängnisse in der Strafvollzugsbehörde von Colorado.

Obwohl die Methode im Strafvollzug noch nicht weit verbreitet ist, haben sich eine Handvoll Gefängnisse von Ohio bis New Mexico dem Thema Virtual Reality (VR) zugewandt. Die Ziele reichen von der Verringerung aggressiven Verhaltens über die Förderung von Empathie mit den Opfern bis hin zur Reduzierung der Rückfälligkeit. Letzteres gilt etwa für Colorado. Obwohl sich das Gefängnisbudget des Bundesstaates auf fast eine Milliarde US-Dollar beläuft, hat der Bundesstaat mit rund 50 Prozent aller Entlassenen eine der schlechtesten Rückfallquoten des Landes. Landesweit werden bis zu zwei Drittel der 600.000 Personen, die jedes Jahr aus Gefängnissen auf US-Bundes- oder Staatenebene entlassen werden, innerhalb von drei Jahren erneut verhaftet.

Ist VR das lange vermisste Puzzleteil in einem unübersichtlichen Spiel mit Ressourcen und Programmen, die dazu beitragen sollen, diese Statistik umzudrehen? Oder handelt es sich wieder nur um ein Experiment, das inhaftierte Personen nicht angemessen auf das Leben nach der Haft vorbereiten wird? "Es wird nicht das Allheilmittel sein, aber es ist ein Instrument, das meiner Meinung nach für viele Menschen sehr wirkungsvoll ist, weil sie nie zuvor die Möglichkeit hatten, das zu üben, was wir ihnen beizubringen versuchen", sagt Bobbie Ticknor, außerordentlicher Professor für Strafjustiz an der Valdosta State University. "Ich denke, wir sollten alles nutzen, was es gibt und sehen, was am besten funktioniert."

Befürworter wie Ticknor sind der Meinung, dass Gefangene durch VR in die Kulisse des modernen Lebens eintauchen können. Das soll ihnen ermöglichen, in einer sicheren Gefängnisumgebung digitale Kompetenzen zu entwickeln. "Wenn man Rollenspiele macht oder neue Fähigkeiten erlernt, werden die umso besser, desto näher man sie an das heranbringen kann, was die Menschen in der realen Welt erleben", sagt Ethan Moeller, Gründer und Geschäftsführer von Virtual Training Partners, das Organisationen bei der erfolgreichen Implementierung von Virtual-Reality-Werkzeugen hilft. "VR kann das besser als jedes andere Schulungsmedium."

Andere sind eher skeptisch. So wie Dr. Cyndi Rickards, außerordentliche Professorin an der Drexel University, die regelmäßig Kurse im Bereich Kriminologie in den Gefängnissen von Philadelphia leitet. Menschen, die inhaftiert sind, trügen das Abzeichen des Häftlings auf ihren Rücken. "Das ist ein entmenschlichendes System", sagt sie. "Wenn man also vorschlägt, dass VR sie in die Gesellschaft reintegriert, nachdem sie in einem Strafsystem waren, macht das die Leute noch mehr zum Objekt." Es setze das Muster der Entmenschlichung der Leute fort. "Ich habe keine zwingenden Beweise dafür gesehen, dass dies der Weg ist, den wir gehen sollten, die Leute zu integrieren, damit sie Mitglieder einer gesunden Gesellschaft werden, in der alle etwas beitragen", sagt Rickards.