Embryonale Stammzellen: Wie ist der Stand nach 25 Jahren Hype?

Forschungshindernisse und Politik haben den Fortschritt verzögert. Dennoch hofft die Wissenschaft auf einen baldigen Durchbruch bei revolutionären Heilmethoden.

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3D-Illustration einer embryonalen Stammzelle

3D-Illustration einer embryonalen Stammzelle.

(Bild: Anusorn Nakdee / Shutterstock)

Lesezeit: 21 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Vor 25 Jahren, im Jahr 1998, gelang es Forschern in Wisconsin, erstmals die mächtigen Stammzellen aus menschlichen Embryonen zu isolieren. Das war ein grundlegender Durchbruch für die Medizin, denn diese Zellen sind der Ausgangspunkt für den menschlichen Körper und haben die Fähigkeit, sich in jede andere Art von Zelle zu verwandeln, seien es nun Herzzellen, Neuronen oder jedes andere Gewebe. National Geographic fasste die schier unglaublichen neuen Möglichkeiten später wie folgt zusammen: "Der Traum ist es, eine medizinische Revolution in Gang zu setzen." Kranke Organe könnten durch Stammzellen repariert werden. Der Beginn einer neuen Ära, der heilige Gral – kaum ein Klischee wurde in den Medien ausgelassen.

Doch wo steht die Technik heute? Die Zwischenbilanz ist ernüchternd: Es gibt immer noch keine einzige auf Stammzellen basierende zugelassene Behandlung auf dem Markt. Unsere Suche nach Antworten auf die Frage, warum das alles so lange dauert, begann im Juni diesen Jahres bei der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Stammzellenforschung (ISSCR) in einem Auditorium in Boston. Hunderte Biologen und Mediziner waren anwesend. Von der Bühne tönte ein Song von Huey Lewis and the News: "I Want a New Drug". Dahinter waren auf der Leinwand Bilder skurril aussehender Zellen zu sehen.

Während des Treffens gab es für MIT Technology Review die Gelegenheit, alte Bekannte zu treffen – einige von ihnen längst im Wortsinn "alte Hasen", Wissenschaftler also, die sich nach einem Vierteljahrhundert harter Arbeit zu Universitäts- und Institutschefs oder in Managementpositionen als Pharmaberater hochgearbeitet haben. Welchen Fortschritt hat dieses Vierteljahrhundert in der Stammzellforschung gebracht? Worin liegen die Schwierigkeiten? Oder stimmt etwas nicht mit der viel gepriesenen Technologie? Für die meisten Menschen, mit denen wir ins Gespräch kamen, war der lange Zeitraum keine Überraschung. So lange könne es einfach dauern, bis eine wirklich neue Biotechnologie ausentwickelt ist. Das heißt: Der erste Gentherapieversuch am Menschen fand zwar schon 1980 statt, aber erst 2012 wurde das erste Genpräparat in Europa zum Verkauf zugelassen. Nach diesen Maßstäben ist die Stammzellforschung auf dem richtigen Weg.

Andere Forscher räumen ein, dass sich die Integration der Stammzelltechnik in die Medizin als überraschend schwierig erwiesen hat. Die grundlegende Herausforderung besteht darin, dass die Zellen nicht wie Aspirin oder ein anderes Medikament sind, das man tonnenweise herstellen kann. Es handelt sich um lebende Dinge, die sich verändern, absterben oder sogar außer Kontrolle geraten können, wodurch neue Krankheiten wie Krebs entstehen. So gesehen war die Entnahme von embryonalen Stammzellen 1998 der einfache Teil. Die Schwierigkeit besteht nun darin, sie dazu zu bringen, spezialisierte Zellen auszubilden – Zellen mit bestimmten Funktionen, die zur Behandlung von Krankheiten benötigt werden. "Solche Ideen brauchen viel Zeit, aber es ist immer noch die richtige Idee", kommentiert Matthew Porteus, Professor an der Stanford University, der in Boston auf dem Podium stand.

Immerhin: Es gibt Anzeichen dafür, dass stammzellbasierte Therapien endlich vor dem Durchbruch stehen. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2023 wurden in den letzten vier Jahren fast 70 neue Tests an Freiwilligen durchgeführt – eine Verdreifachung des bisherigen Tempos. Die am weitesten fortgeschrittene dieser frühen Studien am Menschen wird von Vertex Pharmaceuticals durchgeführt, das im Juni bekannt gab, dass zwei Diabetes-Patienten, die Injektionen von im Labor hergestellten Pankreaszellen erhalten hatten, kein Insulin mehr benötigen. Bei Tests mit künstlichen Zellen zur Behandlung von Blindheit oder Epilepsie liegen ebenfalls erste Ergebnisse vor, die darauf hindeuten, dass transplantierte Zellen helfen. Einiges stehe vor dem Durchbruch, sagt auch Haifan Lin, Professor an der Harvard University und scheidender Präsident der ISSCR. "Ich würde nicht von einer Verzögerung sprechen, denn Stammzellen sind wirklich die kompliziertesten aller Zellen."