E-Motorrad Harley-Davidson Livewire im Test: Offene Phase

Seite 2: Tagesreichweite

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Die Flüssigkühlung von Akku, Motor und Leistungselektronik macht das Motorrad thermisch sehr stabil. Und schließlich verzichtet Harley beim schnarchigen AC-Laden auf das Steckerschloss. Du kannst das Kabel einfach abziehen, um die Ladung zu beenden. Pioniere kennen das noch von frühen E-Autos. Die kürzeren Control-Pins verlieren beim Abziehen zuerst den Kontakt, was zu sofortiger Lastabschaltung führt. Das Gefummel mit Steckerschloss lösen in der Garage wie an der Zero entfällt. Blockiert wird erst bei CCS-Ladung.

Vom extrem lauten Getriebe des Prototypen (Probefahrt) hat sich Harley zum Glück verabschiedet, nachdem das selbst hörgeschädigten Cruiserredakteuren zu laut war. Es bleibt ein recht typisches Anzuggeräusch von Umlenkgetriebe (der Motor liegt längs) und Zahnriemen. Was den Akustikern jedoch entging: Dieses Motorrad piepst extrem laut extrem hochtönig aus der Leistungselektronik. Wenn dieses Fiepen in der Stadt von Fahrbahnbegrenzungen zurückgeworfen wird, entsteht bei mir leichte Übelkeit. Das ist sicherlich ein seltenes Problem, andere menschliche Wühlmäuse sollten jedoch bei der Probefahrt darauf achten. Auf der Landstraße überdeckt Windrauschen das Fiepen größtenteils.

Und irgendwie lieben dich dann alle auf der Harley. Sie ist orange. Sie macht "Wuii!" und ist weg, ohne unverbrannte Lastanfettung zu hinterlassen. Ich habe auch noch einmal darauf geachtet, ob Fußgänger und Fahrradfahrer dich hören, keine Probleme festgestellt und daher folgende These aufgestellt: Die berichteten Probleme ("mich hört keiner!") traten stets bei Menschen auf, die auf sie warteten. Wahrscheinlich liegt hier also Confirmation Bias vor, den wir korrekterweise auch mir unterstellen müssen: Ich ging davon aus, dass man meinen Industriestärke-Wühlmausfieper einen Kilometer weit hört und so war es dann eben auch. Wir brauchen Doppeltaubstudien für belastbare Ergebnisse.

In herbstlicher Frühe in Wunnenstein. Der 50-kW-Lader gehört mir, die Porsches wollen an die schnellen Ionity-Säulen.

(Bild: Clemens Gleich)

Jetzt habe ich Sie lange warten lassen mit der einleitend versprochenen Tagesreichweite. Also, die Livewire fährt so zwischen 100 und 150 km weit pro Akkuladung, wenn die Fahrt Spaß machen soll. Um einen Sicherheitsrest zu lassen, fährt man also knapp 100 km und lädt dann per CCS nach. In Simulation einer Anfahrt auf ein Zielgebiet fuhr ich auf der Autobahn nach Stuttgart – 120 km/h mit dem gut funktionierenden Tempomaten. In Wunnenstein steht neben den Ionity-Säulen eine alte EnBW-Säule mit 50 kW. Dort lud ich nach, obwohl ich es auch in einem Rutsch nach Stuttgart geschafft hätte. Aber dann wäre ich bei einem Problem aufgeschmissen gewesen, also trank ich einen Tee und fuhr nach 40 Minuten bei Akku 96 Prozent weiter.

In Stuttgart hatte ich einen Termin, währenddessen lud ich 22 Minuten an einer der wenigen städtischen CCS-Säulen nach. Auch im Stadtgebiet will die EnBW mehr CCS ausbauen, so die Planung für den Ballungsraum Stuttgart. Danach besuchte ich Freunde. Ich stellte das Motorrad dabei für die anderthalb Stunden ohne Ladekabel anschließen ab. Da der Ladeziegel ohnehin so nutzlos ist unterwegs ohne Übernachtung, ließ ich ihn daheim und benutzte das Fach für mein Stativ.

Ich habe auch schon zwei Kebab-Brötchen darin transportiert. Dann fuhr ich zügig Landstraße zurück. Aufgrund von Navi-Problemen kam ich versehentlich an der Schwerpunktstrecke der Löwensteiner Platte durch. Am Sonntag! Im Verkehr der Wohnmobilisten, Bastelbudenbumsköpfe, Quad-Fahrer, Kradisten, Cabrio- und Oltimer-Fans konnte ich exakt eine Kurve normal ohne Verkehr fahren, was ein üblicher Wert für diese Strecke an sonnigen Sonntagen ist. Meiden! Die entsprechend niedrige Schnitt-Geschwindigkeit über diesen Abschnitt wirkte sich jedoch positiv auf den Verbrauch aus.

Ich steckte mit etwas unter 20 Prozent Restakku in Schwäbisch Hall an und wollte dann auch etwas essen. Leider hatte die Pizzeria zu, also latschte ich zur Tankstelle und kaufte dort Schokolade und Cola, die beiden Grundsäulen gesunder Reiseernährung. Als Motorradfahrer begrüße ich die Pläne der Tankstellen, auch Ladesäulen aufzustellen, denn ich benutze sie mit egal welchen Antrieben als Karawanserei: Fahrzeug und Fahrer gleichzeitig mit Energie versorgen. Wer Tankstellen hasst, findet Ladesäulen auch anderswo, allerdings stehen CCS-Ladesäulen eben nicht überall. Ein wirklich gutes elektrisches Tourenmotorrad hätte also idealerweise zusätzlich zum CCS-Stecker ein 22-kW-AC-Ladegerät und ein Fach für das Typ-2-Kabel am Motorrad. Damit könnte man dann zum Beispiel Restaurants mit Ladern als Mittagsstopp nutzen.

Am Rewe in Schwäbisch Hall blättern die Aufkleber nicht ab dank Dach über der Station. Es ist aber dieselbe Baugeneration. Funktioniert.

(Bild: Clemens Gleich)

Mit 91 Prozent SoC fuhr ich nach 46 Minuten weiter, auf Schleichwegen gen Heimat. Kurz vor daheim entschied ich mich noch spontan zu einem Umweg über meine Hausstrecke, weil der Tag so schön war. Ich stellte die Harley mit 13 Prozent in der Garage ab, steckte sie an und ließ sie gluckern. Über den Tag war ich rund 360 km gefahren. Ohne Termine und Freunde besuchen sind, schätze ich, entspannt bis etwa 500 km drin. Darüber wird es dann wahrscheinlich zäh.

Um die Menge an "Aberabers" vorab zu reduzieren, fuhr ich den ganzen Tag auf "Sport" selbst auf der Autobahn mit Tempomat. Wer sich also geißeln will oder wen ein Notfall drängt, der schafft ohne Verrenkungen mehr. Das liegt aber dann fast ausschließlich am gefahrenen Schnitt, kaum am Modus. Sport kann ruhig drin bleiben. Die Unterschiede im Verbrauch sind marginal, und auf Sport bremst der Motor so stark, dass man sehr viel ohne die Reibungsbremse fahren kann. Harley erlaubt jedoch auch, die Settings frei zusammenzustellen: "Gas"griff, Traktionskontrolle, Rekuperation.

Wenn ich die 360 km in Bezug setze, sehen sie im Kontext der Duke mager aus, mit der ich diese Distanz an einem Nachmittag fuhr, als meine Hausrunde mit einmal tanken. Nun gibt es jedoch auch hier verschiedene Gemüter. Der Harley-Händler sagte, auf seiner Ducati Monster (Test) mache er spätestens nach 90 km eine richtige Pause. Die Tagesdistanzen vieler Alpenurlauber sind auch drin, sofern die Gegend mit CCS bestückt ist. Wer eine BMW GS auf den Hänger hängt für den Sommerurlaub: Anfahrt auf dem Hänger kann die Harley genauso.

Schließen wir also damit, was die Livewire nicht kann: Sie kann nicht an vielen neuen CCS-Stationen laden, ein großes Manko, das Harley schnell beheben sollte, wenn sie sich PR-mäßig nicht selber weiter auf Dauerfeuer in den Fuß schießen wollen. Die Livewire kann keine Touren in großen Gruppen fahren, denn in Kurvengebieten stehen keine großen Gruppen von CCS-Ladern auf einem Haufen (Ladeparks stehen fast nur an Autobahnen) und Verbrennerfahrer wollen nicht zusätzlich zu Tankstellen Ladesäulen suchen.

Zwei Motorräder zusammen gehen. Wer mehr will, fährt besser Ottomotor. Die Livewire kann nicht mit brauchbarer Leistung Wechselstrom laden. Am Biergarten oder im Kurvengebiet stehen aber häufig nur AC-Säulen. Ihr größtes Manko ist aber der Preis: Sie kann diesen Preis nicht rechtfertigen. Selbst der Harley-Händler, von zahlungskräftiger Kundschaft verwöhnt, sieht den als größtes Hindernis. Aber wie gesagt: Wenn Geld keine Rolle spielt, sobald Harley das Ding für 17.000 verkauft, am Tag des Jüngsten Gerichts, da bin ich plötzlich sehr interessiert, mir meine erste Harley-Davidson anzuschaffen.

Vor dem Tag des Jüngsten Gerichts kostet die Harley-Davidson Livewire ab 32.165 Euro.