c't 7/2022
S. 14
Aktuell
Ukraine-Krieg: Cyberattacken

Krieg ohne Cyber

Diskrepanz zwischen erwarteten und tatsächlichen Cyberattacken im Ukraine-Krieg

Ende Februar marschierte Russland in die Ukraine ein. Die Vorhersagen, dass massive Cyberangriffe den Beginn der Invasion einleiten, haben sich nicht bestätigt. Wird die Bedrohung durch Cyberattacken überschätzt?

Von Keywan Tonekaboni

Russland hat seinen Krieg gegen die Ukraine weitestgehend konventionell begonnen, mit Raketenbeschüssen und einem Truppeneinmarsch. Die prognostizierten großflächigen Cyberattacken, die den vorrückenden Truppen einen strategischen Vorteil verschaffen sollten, blieben großteils aus und die kritische Infrastruktur in der Ukraine funktionierte in den ersten Tagen der Invasion offenbar. Vorhersagen, Russland könnte mit Cyberattacken die Kommunikation zwischen ukrainischer Regierung und Bevölkerung abschneiden, sind nicht eingetreten. Präsident Selenskyj und sein Stab inszenierten sich erfolgreich medial via Videoclips.

Zwar gab es Berichte über die Malware HermeticWiper, welche am Vorabend der Invasion auf ukrainischen Computern anfing, Daten zu löschen. Nach allem, was man bisher weiß, war die Auswirkung allerdings nicht sonderlich groß. Daneben fanden nur primitive DDoS-Attacken und Webseiten-Defacements statt, auch gegen russische Einrichtungen, die manche Medien mit ausgeklügelten Cyberattacken in einen Topf warfen.

Trotzdem bleibt die Sorge, der Krieg in der Ukraine könnte zu Cyberattacken auf IT-Systeme in der EU oder weltweit führen. So warnte das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) vor einer erhöhten Gefährdungslage. Zeitgleich mit der Invasion gab es beim Satellitennetzwerk KA-SAT einen Ausfall, wovon auch die Fernüberwachung von Tausenden Windenergieanlagen betroffen war. Laut Reuters vermutet Betreiber Viasat einen Cyberangriff. Es gibt zudem Befürchtungen, Russland könnte auf die verabschiedeten Sanktionen mit Cyberattacken als Gegenmaßnahme reagieren.

Hacktivismus

Russland wurde aber auch selbst Ziel von Cyberangriffen. Die ukrainische Regierung rief eine IT-Armee aus Freiwilligen aus. Auf einem Telegram-Kanal mit mehr als 250.000 Abonnenten wurden Ziele genannt, die wohl vorwiegend auch nur per DDoS angegriffen wurden. Auch das lose Hacking-Kollektiv Anonymous erklärte Russland den „Cyberkrieg“. Beides wird von diversen Experten kritisch gesehen und ist für Beteiligte nicht ungefährlich (siehe Interview). Außerdem lässt Russland diese Angriffe teilweise ins Leere laufen, indem es Aufrufe aus dem Ausland nicht oder nur verlangsamt bedient.

Der ukrainische Minister für digitale Transformation, Mykhailo Fedorov, ruft auf Twitter zur Teilnahme an der IT-Armee auf.

Die Cybergang Conti stellte sich dagegen auf die russische Seite, woraufhin ein offenbar darüber erzürntes Mitglied interne Chats und Daten der vergangenen Jahre veröffentlichte. Das dürfte für die zivile Cybersicherheit vermutlich bedeutender sein als für den Fortlauf des Konfliktes.

NBC News berichtete, in Washington überlege man, auf die russische Invasion mit Cyberattacken zu reagieren. Das wäre bemerkenswert, da US-Präsident Biden selbst davor gewarnt hatte, Cyberangriffe könnten zu einem Krieg eskalieren. Die Sprecherin des Weißen Hauses widersprach denn auch dem Bericht.

Überschätzte Cyberoperationen

Es gibt aber auch Zweifel, ob gezielte Attacken ohne Weiteres ausführbar sind oder die gewünschten Effekte hätten. „Es gibt eigentlich keine Cyberwaffen“, meint der Politikwissenschaftler Lennart Maschmeyer, der zu Cybersicherheit an der ETH Zürich forscht. „Die Idee ist zwar da, hat aber nichts damit zu tun, wie Cyberangriffe funktionieren.“

Im Unterschied zu klassischen Waffen seien Cyberwaffen auf Schwachstellen ihrer Ziele angewiesen und könnten nur den Schaden anrichten, den das angegriffene System selbst ermöglicht. „Die Mittel existieren nicht unabhängig von den Zielen“, betont Maschmeyer. Zudem beschränkt die Gefahr, den Zugang durch Updates oder Enttarnung zu verlieren, die Wahl des Einsatzzeitpunktes. Dadurch beeinflussen sich bei Cyberoperationen Geschwindigkeit, Intensität und Kontrolle gegenseitig negativ.

Auch der Begriff Cyberkrieg sei fehl am Platz, so Maschmeyer: „Cyberoperationen sind nicht-kriegerische Geheimdienstoperationen und folgen einer eigenen Logik, die mehr der Arbeitsweise von Spionen ähnelt.“ Der Wissenschaftler hat Cyberangriffe der letzten Jahre auf die Ukraine untersucht. Seiner Analyse nach sind deren Effekte geringer als angenommen. Eine Ausnahme bilde die Schadsoftware NotPetya, welche in der Ukraine und international erheblichen Schaden verursachte, aber auch Russland selbst traf.

Seine strategischen Ziele sah Russland mit Cyberoperationen wohl nicht erreichbar, wie nicht zuletzt der reale Krieg in der Ukraine zeigt. (ktn@ct.de)

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