c't Retro 2018
S. 77
Geschichte
Retro-Futurismus
Aufmacherbild
Bild: Gui Bonsiepe

Das Cybersyn-Projekt

Wie Chile einst die Zukunft der Planwirtschaft entwarf

Industrie 4.0 ist keine neue Erfindung. Ihre Anfänge gehen auf ein sozialistisches Kybernetik-Projekt in Chile zurück.

Salvador Allende gab 1970 ein Computerprojekt namens Cybersyn (spanisch: Proyecto Synco) in Auftrag, das einen alternativen Weg zum Sozialismus ebnen sollte. Für dieses Experiment entwarf der deutsche Designer Gui Bonsiepe eigens einen futuristischen „Operations Room“, der an Star Trek erinnert: Sieben Wirtschaftslenker sollten in diesem sechseckigen Raum in ihren drehbaren Sesseln sitzen und auf laufend eintreffende, von einem Computer (IBM 360/50) ausgewertete Daten reagieren. Die Daten sollten täglich von Assistenten zu einfachen Schaubildern verdichtet und abfotografiert werden, damit man sie am nächsten Tag auf Leinwände projizieren konnte. In wenigen Minuten sollte dann entschieden werden, wie es weitergeht mit diesem oder jenem Wirtschaftszweig. Wer in den Operations Room eintrat, musste unter der Inschrift durchgehen: „Schreiben verboten. Dies ist ein Raum zum Nachdenken und Fällen von Entscheidungen.“

Lange vor Industrie 4.0 war Cybersyn der Versuch, mit modernsten Kommunikationsmethoden Informationen direkt von der Produktionsfront zu erhalten. Zu diesem Zweck kontaktierte der chilenische Informatiker Fernando Flores den Engländer Stafford Beer, der mit dem Bestseller „Kybernetik und Management“ 1959 einen Weg zu einer „echten Planwirtschaft“ beschrieben hatte. Im November 1971 flog Beer nach Chile und stellte Staatspräsident Allende seinen von der Kybernetik gesteuerten Idealstaat vor. Allende war begeistert und lobte den Engländer für Ideen, die einen dezentralisierten und antibürokratischen Sozialismus ermöglichen sollten.

Ein Netz von 500 Fernschreibern, Cybernet genannt, sollte täglich die Produktionsziffern aus den verstaatlichten Unternehmen in den sechs wichtigsten Branchen Chiles (Energie, Kupfer, Stahl, Petrochemie, Fischfang und Transport) in die Zentrale übermitteln. Die Daten sollten die Software Cyberstride füttern und in Simulationen durchgerechnet werden, um Lieferengpässe und andere Probleme frühzeitig zu erkennen. Für später war ein Modul namens Cyberfolks vorgesehen, bei dem sich Arbeiter und Angestellte über Terminals mit eigenen Ideen zur Produktion und Distribution melden sollten. Besonderen Wert legte Beer auf seine „algedonische Schleife“, bei der stets ein Feedback vor dem nächsten Handlungsschritt eingearbeitet wurde, das positive Entwicklungen belohnte und negative bestrafte.

Als Chile von einem Streik der Transportunternehmen erschüttert wurde, den der US-Geheimdienst CIA geplant hatte, konnte das Cybersyn-Projekt seine Leistungsfähigkeit beweisen: Allendes Regierung organisierte 200 loyale LKW-Fahrer, die den Transport lebenswichtiger Güter sicherstellten. Als jedoch das Militär mit massiver US-Unterstützung am 11. September 1973 putschte, war die Kybernetik machtlos. Der Präsidentenpalast Moneda, wo gerade der Operations Room von Cybersyn eingebaut werden sollte, wurde als erstes von den Jagdflugzeugen des aufständischen Generals Pinochet bombardiert. Präsident Allende nahm sich das Leben.

Fernando Flores und seine Programmierer wurden verhaftet, gefoltert und auf die Insel Dawson verbannt. Der gerade im Aufbau befindliche Operations Room wurde demontiert und von Bulldozern geschreddert. Nach drei Jahren durfte Flores dank einer Kampagne von Amnesty International mit seiner Familie in die USA ausreisen.

Dort gründete er die Firma Action Technologies, die die Erfahrungen aus dem Cybersyn-Projekt 1987 in der Groupware „The Communicator“ umzusetzen versuchte. Dieses frühe Mail- und Termin-Meldesystem fasste jede Äußerung der Nutzer als Sprechakt auf, dem bis zu einem festgelegten Termin eine verbindliche Handlung folgen musste.

Mit dieser direkten, verbindlichen Art von Auftrag und Rückmeldung kam der in Novell-Netzwerken installierbare Communicator mit seinen Frontends für DOS und Mac OS in den USA überhaupt nicht an. Der US-Journalist Jerry Pournelle bezeichnete die direkte Kommandosprache in der Zeitschrift Byte gar als „faschistische Software“.

In Deutschland stieß der Communicator auf den heftigen Widerstand der Gewerkschaften, die die hinter dem System liegende Zeitkontenerfassung ablehnten. Die sozialistischen Ursprünge der Software mit ihrer kargen, zeichenorientierten Oberfläche interessierte da bereits niemanden mehr. (hag@ct.de)