c't 17/2018
S. 38
News
SAP-Projekt

Elwis lebt – nicht mehr

Die elektronische Lidl-Warenwirtschaft (Elwis) mit SAP ist am Ende

Eine halbe Milliarde Euro und sieben Jahre Entwicklungszeit hat der Discounter Lidl investiert, um seine Logistik auf SAP HANA umzustellen. Doch jetzt hat der Vorstand die Reißleine gezogen und das Projekt abgebrochen.

Nach euphorischen ersten Eindrücken betrachtet Lidl die Ziele des Projekts Elwis mittlerweile als unerreichbar.

Lidl hat im Juli das Vorhaben, weltweit mehr als 10.000 Filialen und 140 Logistikzentren mit einer Memory-residenten Datenhaltung zu steuern, nach immensen Anstrengungen aufgegeben.

Im Jahr 2011 hatte die Handelskette Lidl mit großen Erwartungen einen Neubau ihrer Logistik-Software in Angriff genommen. Hoffnungsträger war SAPs wenige Monate zuvor freigegebene In-Memory-Datenbank HANA (High Performance Analytical Application) und die später darauf aufgebaute SAP-Anwendung Retail. HANA versprach erstens noch schnellere Datenanalysen als andere analytische Datenbanken, die ihre Daten auf persistenten Datenträgern wie Festplatten oder SSDs halten. Zweitens – und das war ein Quantensprung – war HANA als erste analytische Datenbank auch dafür konzipiert, Transaktionen in ihrem Datenbestand abzuwickeln, was den umständlichen Parallelbetrieb einer operativen Transaktions-Datenbank und eines gesonderten analytischen Data-Warehouses verzichtbar machen soll.

Die neue Software sollte bei Lidl ein selbstentwickeltes Warenwirtschaftssystem ersetzen, das aus 90 Modulen für Einkauf, Filialsteuerung, Logistik und Angebotsabwicklung besteht und über mehr als 150 spezialisierte Schnittstellen mit anderen Anwendungen des Discounters kommuniziert. „Der größte Transformationsprozess in der Unternehmensgeschichte“, wie ihn Lidls langjähriger Chef der Anwendungsentwicklung René Sandführ titulierte, verschlang in sieben Jahren nicht weniger als 500 Millionen Euro. Er beschäftigte zum Einen die IT-ler bei Lidl, SAP und der Software AG – diese betreut die Prozesskoordination in der IT der Handelskette. Zum Anderen setzte Lidl, wie die Lebensmittelzeitung berichtet, auf eine dreistellige Zahl von Experten des Consulting-Unternehmens KPS, das am Markt mit dem Begriff „Rapid Transformation“ auftritt.

KPS betont auf seiner Webseite, das Unternehmen habe die Termine, Elwis zuerst in Österreich, dann 2016 in Nordirland und 2017 in den USA einzuführen, „punktgenau getroffen“. In diesen Ländern war es um die Erstinstallation eines Warenwirtschaftssystems gegangen.

Die Lebensmittelzeitung referiert allerdings, dort hätte sich bereits abgezeichnet, dass die neue Software für den Einsatz in umsatzstärkeren Ländern nicht leistungsfähig genug sei. Mitte 2017 unterhielt Lidl zum Beispiel in den USA 45 Filialen, in Deutschland rund 3200. Die Spekulation spült Wasser auf die Mühlen der SAP-Konkurrenz: Viele Mitbewerber äußern sich seit Längerem hinter vorgehaltener Hand, bei relevanten Transaktionslasten gehe die Performance der HANA-Datenbank unhaltbar in den Keller.

Einstiegshürden

Öffentlich wurde Lidls Entscheidung durch eine Meldung der Heilbronner Stimme, die sich auf eine interne Mitteilung der Handelskette an ihre Mitarbeiter beruft. Darin heißt es, mit Elwis seien „die ursprünglich definierten strategischen Ziele nicht mit vertretbaren Aufwand“ erreichbar. Der Entschluss zum Abbruch des Leuchtturm-Projekts sei „keine Entscheidung gegen SAP, sondern für ein eigenes System“ gewesen, schreiben die Vorstände Jesper Hojer und Martin Golücke, „In der Kosten-Nutzen-Abwägung spricht alles für die Weiterentwicklung der Wawi“ [Red.: der bisher genutzten Warenwirtschafts-Anwendung].

Die Aufgabe, 150 Modul-Schnittstellen, die überwiegend bei Lidl mit der Entwicklungsumgebung Gupta programmiert worden sind, in die komplett neue HANA-Landschaft zu übertragen, erscheint schwierig genug. Schon deshalb könnte man die Lidl-Kapitulation nachvollziehen. Dazu kommen aber noch weitere Hürden: Lidl bewertet seine Warenbestände traditionell anhand der regelmäßig aktualisierten Verkaufspreise. Diese Praxis gehört aber nicht zum Repertoire von SAP Retail: darin ist nur vorgesehen, Warenbestände anhand der Einkaufspreise zu bewerten, also jeden Posten mit einem unveränderlichen Betrag.

Alle Beteiligten erklären vehement, sie würden auch weiterhin miteinander kooperieren. Unausgesprochen wird deutlich: Weder ist der Discounter prinzipiell mit der an vielen Stellen verwendeten SAP-Software unzufrieden, noch scheint er ein Problem in deren Lizenzkosten zu sehen. Dennoch ist die versuchte Elwis-Einführung ein eindrucksvolles Beispiel für misslungene Projektarbeit. Dabei war die Umstellung nicht unbedingt zur Totgeburt verurteilt: Laut Lebensmittelzeitung läuft SAP HANA/Retail seit 2016 erfolgreich bei Aldi Süd. (hps@ct.de)