c't 5/2017
S. 24
News
Scheinselbstständigkeit in der IT
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Bild: Deutsche Rentenversicherung Bund / Armin Okula

Schein oder nicht Schein?

Der Streit um die Scheinselbstständigkeit von IT-Experten

IT-Profis sind gefragt. Trotzdem erhalten viele von ihnen als Selbstständige keine Aufträge mehr. Die Schuld geben sie der Deutschen Rentenversicherung und einem Arbeitsmarkt-Gesetz, das Anfang April in Kraft tritt.

Rolf Fischer fühlte sich überrumpelt. Schon seit vier Jahren beriet der selbstständige IT-Experte einen großen Auto-Zulieferer, aber dann musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Das Unternehmen kündigte im August ohne Vorwarnung seinen Beratungsvertrag und stellte ihn vor die Wahl: Entweder er lasse sich von einer Zeitarbeitsfirma befristet anstellen oder er fliege komplett raus.

Fischer, der in Wirklichkeit anders heißt, wollte selbstständig bleiben, konnte den Verlust über seine anderen Kunden aber nicht auffangen. Also ließ er sich anstellen. Das Paradoxe: Der Auto-Zulieferer zahlte nun aufgrund der Lohnnebenkosten 50 Prozent mehr für dieselbe Leistung. Gleichzeitig blieb für Fischer weniger übrig, denn Überstunden bekam er nicht mehr bezahlt.

Lieber unabhängig

Wie Fischer geht es zurzeit vielen IT-Profis. Sie sind zwar nach wie vor gefragt, aber selten als Selbstständige. „Leider haben sich die freiberuflichen Projekte in den letzten sechs Monaten drastisch reduziert. Die meisten unserer Kunden wünschen nur noch Arbeitnehmerüberlassung“, meldete Anfang Februar ein IT-Projekt-Vermittler. Begründet wird das oft nur schwammig, zum Beispiel mit „kundeninternen Compliance-Regeln“.

Viele freie Informatiker und Ingenieure haben ein derart spezielles Fachwissen – zum Beispiel im Bereich IT-Sicherheit –, dass sie in Projekten bei unterschiedlichen Kunden mehr verdienen können als bei einem einzigen Arbeitgeber. Deshalb haben sie kein Interesse an einer festen Stelle. Auch Zeitarbeitsverträge sind für sie nicht attraktiv, weil diese ihnen kaum mehr Sicherheit geben als die Selbstständigkeit, aber Unabhängigkeit und Einkommen schmälern. Zum Beispiel stand im neuen Vertrag des IT-Beraters Rolf Fischer, dass der Arbeitgeber das Gehalt jederzeit ohne Begründung um 25 Prozent reduzieren kann.

Zum Kasten: Selbstständige IT-Profis

Entsprechend wütend reagieren die hochqualifizierten Freien nun auf den Trend zur Leiharbeit. „Ich fühle mich in der Berufsausübung mehr als stark behindert. Offensichtlich ist meine Tätigkeit von der Politik nicht mehr gewünscht“, sagt Rolf Fischer. Ein Unternehmensberater spricht gegenüber c’t sogar von einem „indirekten oder sogar direkten Berufsverbot für viele Freiberufler und Solo-Selbstständige“.

Die Schuld geben die Selbstständigen nicht den Unternehmen – sondern vor allem der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV). Die selbstverwaltete Körperschaft entscheidet in sogenannten Statusfeststellungsverfahren, ob ein Selbstständiger tatsächlich selbstständig ist oder nur scheinselbstständig. Geprüft wird das sowohl im Rahmen von regelmäßigen Betriebsprüfungen als auch auf Wunsch einzelner Auftraggeber oder Auftragnehmer.

Die gesetzliche Definition von nichtselbstständiger Arbeit ist schwammig: „Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers“ (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Die DRV hat aus der Rechtsprechung einige zusätzliche Anhaltspunkte entlehnt (siehe Kasten) und entscheidet in jedem Einzelfall anhand langer Fragebögen. Stellt sie eine Scheinselbstständigkeit fest, betrachtet sie Auftraggeber und Auftragnehmer als Arbeitgeber und Angestellten – und fordert Sozialversicherungsbeiträge ein, sogar rückwirkend für bis zu vier Jahre.

Schwere Vorwürfe

Seit 2006 ist der Anteil der Prüfungen mit dem Ergebnis „scheinselbstständig“ stark gestiegen (siehe Grafik). Viele Selbstständige, ihre Verbände wie der VGSD sowie ihre Anwälte unterstellen der DRV Absicht: Sie produziere Scheinselbstständige, um die Sozialkassen zu füllen. Sie picke sich in den Einzelfallprüfungen nur die Punkte heraus, die für Abhängigkeit sprechen, und ignoriere das Gesamtbild.

Mehr Scheinselbstständige

Die DRV weist diesen Vorwurf „entschieden zurück“. Man habe zu keiner Zeit die Rechtsauslegung verschärft. Der höhere Anteil der Fälle von Scheinselbstständigkeit liege daran, dass seit einigen Jahren vermehrt solche Personen Anträge stellen, „die durch gesicherte Rechtsprechung in aller Regel in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen (z. B. Klinikpersonal, Honorarärzte)“.

Die DRV-Kritiker halten mit Beispielen dagegen, in denen die Versicherung in identischen Konstellationen zunächst auf Selbstständigkeit und einige Jahre später auf Abhängigkeit entschieden habe. Außerdem habe man die meisten Gerichtsverfahren gewonnen. Eine nachvollziehbare Urteilsstatistik gibt es allerdings nicht.

Unzweifelhaft ist, dass sich die IT-Welt verändert hat, während die Kriterien für Abhängigkeit gleich geblieben sind: Software wird heutzutage meist nicht mehr im stillen Kämmerchen nach Pflichtenheft entwickelt, sondern agil, in enger Abstimmung mit dem Kunden, ohne klare Projektdauer. Externe dürfen selten eigene Hardware nutzen, weil sie dadurch gegen die Sicherheitsregeln der Unternehmen verstoßen.

Reform mit Kollateralschaden

Neben der DRV stellen die ITler auch Arbeitsministerin Andrea Nahles an den Pranger. Sie unterstellen, dass die von Nahles erarbeitete Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) die Unternehmen zusätzlich aufschreckt und verunsichert. Bislang können Arbeitsvermittler nämlich „auf Vorrat“ eine Leiharbeitserlaubnis besorgen, die als Fallschirm dient, falls ein von ihnen vermittelter Selbstständiger als Scheinselbstständiger eingestuft wird. Auf diese Weise stellen die Vermittler sicher, dass der Endkunde auf keinen Fall Sozialbeiträge zahlen muss.

Doch das ist ab April verboten. Wird ein Selbständiger zum Scheinselbständigen erklärt, muss der Auftraggeber haften und kann strafrechtlich verfolgt werden – es drohen Geld- und sogar Freiheitsstrafen.

Die IT-Freelancer vermuten, dass aus diesem Grund viele Unternehmen ihre Selbstständigen in Leiharbeiter umwandeln wollen. Eine Reihe von Konzernen, darunter VW, BMW und die Telekom, wollte das Thema gegenüber c’t nicht kommentieren. Die Arbeitsrechts-Expertin des Industrieverbands Bitkom, Adél Holdampf-Wendel, warnt aber: „Das neue Gesetz wird dazu führen, dass Werk- und Dienstverträge mit Selbstständigen in bestimmten Fällen als verdeckte Arbeitnehmerüberlassung gewertet und streng sanktioniert werden.“

Die Gesetzesbegründung stellt zwar klar, dass die Tätigkeit von IT-Beratern nicht eingeschränkt werden soll. Rechtlich bindend ist diese Aussage aber nicht. „Nun werden wieder Gerichte entscheiden müssen, was erlaubt ist und was nicht. Statt klarer Regeln bringt das Gesetz für die Unternehmen erneut Rechtsunsicherheit“, sagt Holdampf-Wendel.

Mehrere von c’t befragte IT-Freelancer betonen, dass sie Nahles’ Kampf gegen ausbeuterische Leiharbeit und Outsourcing grundsätzlich begrüßen – zum Beispiel in der Taxibranche, bei Speditionen oder in Schlachthöfen. Doch sie sehen sich als Kollateralschaden einer schlecht gemachten Reform. „Ich sorge ja selbst für mein Alter vor, habe Immobilien, habe Lebens- und Rentenversicherungen“, sagt Rolf Fischer. Er will keine Zwangsvorsorge, sondern einfach nur in Ruhe arbeiten.

(cwo@ct.de)