c't 16/2016
S. 3
Editorial
André Kramer

Sammelwut

Die Welt teilt sich in diejenigen, die kleine Monster sehen, und solche, die sie nicht sehen wollen. Selten hat eine App einen derartigen Senkrechtstart hingelegt wie Pokémon Go - und selten hat eine derart gespalten.

Die einen starren noch mehr als zuvor auf das Smartphone-Display. Mein Arbeitsweg dauert nun eine Stunde statt einer halben und verbraucht eine komplette Akkuladung. Vor der Drogerie verwehrt ein fieses Taubsi den Einlass, vor dem Bäcker lungert ein dickes Traumato herum und verputzt Croissants. Zufrieden stelle ich einen Sack kleiner Monster auf den Schreibtisch. Aufgeregte Kollegen zeigen ihre Errungenschaften: Ein Raupy! Ein Evoli! Ein Rattikarl! Extase - und Verabredung zum gemeinsamen Sonntagsspaziergang.

Die anderen wettern noch mehr als zuvor über die Smartphone-Zombies. Eine Veranstaltung im mittlerweile monothematisch auf das Spiel eingeschossenen Facebook ruft auf, Pokémon-Spieler mit Steinen zu bewerfen. Browser-Add-ons filtern Pokémon-Inhalte. Ein Kollege brüllt: "Das gehört verboten!", als er meine Tätigkeit erkennt. Alles nur ein Scherz, versteht sich.

"What's not to like?", frage ich. Pokémon Go ist gewaltfrei, fördert Bewegung und Kontakte. Selten habe ich auf der Straße in so viele strahlende Augen geblickt. Fremde lachen über kleine Monster und zittern gemeinsam vor dem Server-Absturz. Eltern rufen aus dem Fenster: "Kinder, kommt zum Spielen rein, die Sonne scheint nicht."

In der Einfachheit des Spiels liegt sein Erfolg begründet. Pokémon zu sammeln erfordert Beharrlichkeit statt Strategie und appelliert an Trieb und Instinkt statt an Kultur und Intellekt. Man streift den inneren Schachspieler ab und wird zum prähistorischen Beerenleser. Die Folgen: leerer Akku und aufgebrauchtes Datenvolumen.

Hinsichtlich Motivation und Triebfeder erinnert Pokémon an Tinder. Es hängt von Alter, Familienstand und Typ ab, ob man lieber virtuelle Spielgefährten sammelt oder reale. Im Wesen der Augmented Reality ist indes angelegt, dass man auch bei der Jagd nach kleinen Monstern auf spätere Lebens-, Lebensabschnitts-, Nacht- oder Nachtabschnittsgefährten treffen kann.

Über kurz oder lang werden Pokémonisten abwägen, ob die ewige Jagd nach immer mächtigeren Monstern den Zeiteinsatz rechtfertigt. Der erste Hype wird abflauen; Fans und Gegner kommen zur Ruhe. Was bleibt, ist der erste große AR-Hype für die breite Masse - die Verschmelzung von trockener Realität und absurder Phantasie. What's not to like?

Unterschrift André Kramer André Kramer

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