c't 16/2016
S. 22
News
Pokémon-Hype

Monströser Hype

Praktisch aus dem Nichts heraus erobert Pokémon Go Smartphones im ganzen Land

Wer momentan durch die Straßen deutscher Städte läuft, sieht sie überall: Smartphone-Zombies, die gebannt auf ihre Bildschirme starren und dabei unverständliche Wörter wie Raupy, Schiggy oder Rattfratz von sich geben. Die Pokémon sind wieder da. Aber warum spielt im Moment gefühlt jeder das neue Spiel Pokémon Go?

Schon bevor Pokémon Go überhaupt offiziell in Deutschland erhältlich war (siehe Spielebesprechung auf S. 184), hatte die App eine vorher nie dagewesene Installationswelle auf Android- und iOS-Smartphones ausgelöst – und das, obwohl es gar nicht einfach war, das Spiel überhaupt aufs Handy zu bekommen. Nachdem Pokémon Go in den USA aus dem Stand die Apple- und Play-Store-Charts gestürmt hatte, wurden auch hierzulande munter APK-Installationsdateien getauscht und Wege gefunden, US-Apple-Store-Konten anzulegen, um das Spiel auf deutsche iPhones zu laden.

Video: Nachgehakt

Kaum hatte ich das Spiel auf meinem Handy, fragten mich gleich zwei Freunde, wie sie denn an die Pokémon-App kommen könnten. Auf dem Weg zum kleinen Bahnhof in unserem Vorstadt-Kaff liefen mir dann prompt drei Jugendliche mit Handy vor der Nase über den Weg. Ein Blick und sofort war klar: Auch die suchen gerade Taschenmonster. Die Kampfarena am Kinderspielplatz, den ich aus meinem Arbeitszimmer sehen kann, wird stündlich von Spielern aller Altersklassen aufgesucht. Die stehen dann jedes Mal ein paar Minuten mit gezücktem Handy neben dem Sandkasten, um ihre Pokémon in der Arena antreten zu lassen.

Zwei Millionen Dollar am Tag

Pokémon sind allgegenwärtig. Nicht einmal beim Wäschetrocknen kann man ihnen aus dem Weg gehen.

Pokémon Go ist noch keine drei Wochen auf dem Markt und wurde bereits öfter installiert als die Dating-App Tinder. Mehr Menschen spielen jeden Tag Pokémon Go, als täglich die App des sozialen Netzes Twitter nutzen. Und nicht zuletzt verbringen die Spieler mehr Zeit beim Fangen von Monstern als in WhatsApp. Auch finanziell scheint die App ein voller Erfolg zu sein. Die Entwickler sollen an den Ingame Items jeden Tag fast zwei Millionen US-Dollar verdienen und die Aktie von Mitbesitzer Nintendo schoss nach der Veröffentlichung des Spiels steil nach oben – was den Wert der Firma fast auf einen Schlag um sieben Milliarden Dollar in die Höhe trieb.

Woher dieser Hype kommt, ist schwer zu bestimmen. Pokémon Go hat in Sachen Spielmechanik sehr viel mit dem ebenfalls von Niantic entwickelten Augmented-Reality-Spiel Ingress gemein. Aber Ingress spielen viel weniger Menschen, obwohl es dank AR-Technik denselben Coolheits-Faktor hat. Zum Teil mag das an der düsteren Spielwelt von Ingress liegen. Pokémon Go hingegen ist familienfreundlich, bunt und lebensbejahend. Nicht selten trifft man ganze Familien, die zusammen auf der Jagd nach Monstern unterwegs sind.

Ein Ausflug in die Jugend

Ein weit größerer Faktor mögen aber die Monster selber sein. Mehrere Generationen sind mit Pokémon groß geworden. Ob Game-Boy-Spiel, Sammelkarten oder Anime im Fernsehen – wer Ende der 90er oder in den 2000ern aufgewachsen ist, konnte den bunten Monstern kaum aus dem Weg gehen. Dass sie jetzt endlich auf dem Handy angekommen sind und die App dazu noch kostenlos ist, begeistert und löst Nostalgie aus.

Die eher sterile Spielwelt von Ingress wird in Verbindung mit einem Avatar auf der Karte und den in die reale Welt projizierten Monstern zugänglicher. Hinzu kommt der Sammeltrieb, der schon immer integraler Bestandteil des Pokémon-Phänomens war. Trifft man andere Spieler bei der Jagd, kommt man gleich ins Gespräch: Welche Pokémon hast du, wie stark sind die?

Der Hype könnte sich halten

Noch ist natürlich nicht klar, ob der ganze Monsterhype nur ein Buschfeuer ist und das Spiel nicht genau so schnell von der Bildfläche verschwindet, wie es aufgetaucht ist. Dagegen spricht allerdings der weltweite Erfolg, den das Pokémon-Franchise in den vergangenen zwanzig Jahren hinter sich hat. Insgesamt haben sich die verschiedenen Videospiele der Serie knapp 280 Millionen Mal verkauft – toppen kann das nur Super Mario.

Was ebenfalls dafür spricht, dass Pokémon Go uns erhalten bleibt, ist das Vorgängerspiel Ingress. Niantic hat es geschafft, dessen Spieler zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammenzuschweißen, die ihr Spiel sehr ernst nimmt. Ingress-Spieler treffen sich regelmäßig zu Events und verbringen viel mehr Zeit mit ihrem Spiel als andere Spieler von mobilen Games. Und auch für Pokémon Go werden bereits in vielen Städten Pokémon-Nachtwanderungen und ähnliche Gruppentreffen organisiert. Wir werden uns also unter Umständen an die kauzigen Vokabeln und das merkwürdige Verhalten von Pokémon-Spielern in der Öffentlichkeit gewöhnen müssen. (fab@ct.de)