c't Jahresrückblick 2022
S. 114
Software
Microsoft & Open Source
Bild: Albert Hulm

Öffnung in Raten

Microsofts Abkehr von der Geheimniskrämerei

Der wirtschaftliche Erfolg Microsofts gründete in der Anfangszeit auf gut gehüteten technischen Geheimnissen. Dem folgte eine ausgeprägte Open-Source-Phobie. Inzwischen hat sich Microsoft zu einem der größten Linux-Liebhaber gemausert. Wir lassen die wichtigsten Stationen Revue passieren und blicken in die Kristallkugel.

Von Peter Siering

Es grenzt an Komik, wie Microsofts frühes Motto „Information at your fingertips“ den eigenen Umgang mit Informationen konterkarierte: Microsofts Technik sollte der Welt Zugang zu Informationen erleichtern, der Konzern selbst gab aber Details über seine Produkte nur widerwillig preis. Doch die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Open-Source-Software, die als Konkurrenz erwachsen war, hat positiv auf den Software-Riesen abgefärbt.

Frühe Geheimnisse

Microsofts Erfolgsstory begann mit dem PC-Betriebssystem DOS. Um es herum entstand eine bunte Software-Welt aus Entwicklungsumgebungen, Anwendungssoftware und Systemerweiterungen. Die machten sich nicht nur die teils mit den Original-Manuals gelieferte Dokumentation zunutze, sondern profitierten erheblich von direkten Zugriffen auf die Hardware, um zum Beispiel Bildschirmausgaben so schnell realisieren zu können, dass der Anwender nicht gelangweilt zusehen musste.

Obendrein gab es DOS-Funktionen, die weder Microsoft noch IBM dokumentiert hatten, die aber unverzichtbar waren. Ein Beispiel: das „INDOS Flag“, mit dem Programme feststellen konnten, ob DOS gerade dabei war, eine Funktion auszuführen oder ob ein Funktionsaufruf gefahrlos möglich war; Betriebssysteme waren damals nicht wiedereintrittsfest, konnten also immer nur eine Funktion ausführen – heute selbstverständliches Multitasking war noch weit entfernt.

Die Defizite der Dokumentation glichen zahlreiche Autoren aus, etwa Peter Norton in seinem Programmer’s Guide to the IBM PC; das Buch gab interessanterweise mit Microsoft Press ein unternehmenseigener Verlag heraus. Zu großer Bekanntheit brachte es damals auch Andrew Schulman mit seinem umfassenden Werk „Undocumented DOS“, das bei Microsoft weniger gern gesehen wurde und bei Addison-Wesley erschienen war. Er hatte die Fleißarbeit vollbracht, die zerstreuten Quellen in einem Werk zusammenzutragen.

Ohne die einschlägigen Bücher zu undokumentierten Funktionen in DOS war es unmöglich, in der PC-Frühzeit konkurrenzfähige Software zu entwickeln. Der Vorsprung, den die eigenen Entwickler dadurch hatten, brachte Microsoft immer wieder vor Gericht.
Ohne die einschlägigen Bücher zu undokumentierten Funktionen in DOS war es unmöglich, in der PC-Frühzeit konkurrenzfähige Software zu entwickeln. Der Vorsprung, den die eigenen Entwickler dadurch hatten, brachte Microsoft immer wieder vor Gericht.

Davon, dass Microsoft den Quelltext von DOS veröffentlichen könnte, sprach niemand. Die Software war damals noch so wenig komplex, dass man mit genug Energie auch interne Arbeitsweisen ergründen konnte. Viele hatten an der damit verbundenen Forschung zudem viel mehr Vergnügen als am Studium fremder Quelltexte. Zur selben Zeit schickte sich bereits Richard Stallman mit dem Schreiben der GNU General Public License (GPL) an, die Grundlagen für Freie Software zu schaffen, wie sie heute mit Linux und vielen anderen Projekten selbstverständlich ist.

Microsoft hingegen war damit beschäftigt, Entwicklern zu erklären, warum die undokumentierten Funktionen böse seien: Sie behinderten das Unternehmen angeblich darin, DOS und später auch Windows weiterzuentwickeln. Dass das Unternehmen dabei übersah, dass auch die eigenen Anwendungsentwickler munter von diesen Funktionen Gebrauch machten, bereitete die Grundlage für Prozesse gegen Microsoft wegen Verletzung von Wettbewerbsgesetzen.

NT: Info en masse

Die erste nennenswerte Öffnung Microsofts trat mit dem Beginn der Entwicklung von Windows NT ein. Der dafür als Chefdesigner gewonnene Ex-Digital-Mitarbeiter Dave Cutler hatte schon mehrere Betriebssysteme geschaffen und sprach gern über Details des Vorhabens – es entstanden noch während der Entwicklung Bücher über den Aufbau und sogar eines über den Entwicklungsprozess selbst. Microsoft verteilte Entwicklungskits und Vorabversionen großzügig und geizte erstmals nicht mit Informationen.

In Zeiten von Windows 3.x und 9x, deren Entwicklung strategisch und technisch noch in der DOS-Tradition standen, gab es allenfalls geschlossene Kreise für Betatests. Entwicklungskits waren nur für viel Geld zu haben. Supportleistungen gab es nur als Abo und über besondere Einwahlzugänge. Das Informationsgewitter, das das Unternehmen rund um NT entfachte, war geschickt und folgte natürlich einer Absicht: die damaligen Mitbewerber IBM OS/2 und die zerstrittene, in viele Lager gespaltene x86-Unix-Gemeinde abzuhängen. Das gelang.

Den Kurs setzte Microsoft dann fort mit verschiedenen Abo-Angeboten, die Entwickler als Microsoft Developer Network (MSDN) und Anwender und IT-Verantwortlicher als Technet für eher schmale Taler beziehen konnten. Sie wurden über Jahre geradezu erschlagen mit Umzugskarton-großen CD- und DVD-Lieferungen, hatten je nach Abo für Testzwecke Zugriff auf fast alle Microsoft-Produkte. Sämtliche Kits zu Software- und Treiberentwicklung waren Teil der Lieferung. Universitäten konnten mit speziellen Verträgen sogar den Quellcode von Windows NT erhalten.

Einer breiten Öffentlichkeit hat Microsoft den Quellcode aktueller Betriebssysteme aber nie zur Verfügung gestellt. Sie tauchten indes mehrfach aus zweifelhaften Quellen im Internet auf, waren unvollständig und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon stark veraltet. In der Zeit der großen Informationslawinen aus Redmond taktierte der Konzern an vielen Fronten gegen die erstarkende Open-Source-Bewegung. Steve Ballmer, Boss bei Microsoft in dieser Zeit, war die Dampframme der Bewegung. Er verstieg sich sogar zu der Aussage, Linux sei ein Krebsgeschwür.

GPL als Krankheit

Die Open-Source-Szene hatte zuvor die Halloween-Dokumente seziert. Das waren Microsoft-interne Memoranden, in denen die Autoren diskutierten, welche Gefahren für Microsoft aus Open-Source-Software erwachsen könnte. Eric S. Raymond, der sich in seinem Thesenpapier „The Cathedral and the Bazaar“ mit Open Source befasst hatte, veröffentlichte die ihm zugespielten Microsoft-Memos.

Das Papier adelte Open Source: Microsoft hatte verstanden, dass Qualität und Komplexität der freien Software mit kommerzieller Software mithalten konnte und eine ernste Gefahr sei; auch zeigten die Papiere, dass bei Microsoft intern schon darüber nachgedacht wurde, wie man die Stärken freier Software-Entwicklung übernehmen kann.

Nach außen agierte das Unternehmen weiter eher ungeschickt, etwa mit der Mindcraft-Studie, die Windows NT eine deutliche höhere Leistung als Linux im Servereinsatz bescheinigte. Sie war von Microsoft bezahlt und die Ergebnisse technisch zweifelhaft. Später ging Microsoft dazu über, der IT-Branche vorzurechnen, dass bei Windows die Total Cost of Ownership (TCO) geringer sei und das System einfacher zu administrieren.

Schließlich holte der Konzern die juristische Keule heraus: Ballmer argumentierte mit der Rechtssicherheit, die Käufer von Microsoft-Lizenzen genössen. Er spielte darauf an, dass sein Unternehmen die Nutzer vor den Rechtsansprüchen Dritter schütze – um gleichzeitig Unsicherheit zu schüren, ob das auch Linux-Firmen leisten könnten. Er nutzte damit die Stimmungslage aus, die aufgrund der rechtlichen Auseinandersetzung um die gestrandete x86-Unix-Grande SCO für Unsicherheit im Unix-Lager sorgte.

Krankheiten, mutierte Pinguine, juristische Winkelzüge – eine Zeit lang war Microsoft jedes Mittel recht, Open-Source-Software im Allgemeinen und GPL-Code im Speziellen zu diskreditieren.
Krankheiten, mutierte Pinguine, juristische Winkelzüge – eine Zeit lang war Microsoft jedes Mittel recht, Open-Source-Software im Allgemeinen und GPL-Code im Speziellen zu diskreditieren.

Patente als Waffe

Bevor Microsoft Vernunft annahm, war sich Ballmer nicht zu schade, auch noch Softwarepatente ins Feld zu führen. Allein 2005 hatte das Unternehmen 3000 weitere Patente zu den bereits vorhandenen 4000 eintragen lassen. Darunter triviale Dinge wie das FAT-Dateisystemformat und den Button-Doppelklick. Die Open-Source-Firmen sahen sich gezwungen, selbst Patentpools zur Abwehr eventueller Streitigkeiten einzurichten und Garantien anzubieten, die Kunden vor Ansprüchen Dritter freihielten.

Kurz danach begann sich Microsofts Verhältnis zu Open Source zu entspannen. Das Open Source Lab (siehe auch folgender Artikel) nahm Fahrt auf. Auf einer eigenen Website dokumentierte Microsoft seine Open-Source-Bemühungen. Auch pekuniär wurde Linux für Microsoft interessant: Im Rahmen eines Patentabkommens mit Novell (dem damaligen Suse-Eigner), in dem sich die Unternehmen gegenseitig von Ansprüchen freistellten, zahlte Microsoft zwar 240 Millionen US-Dollar für Gutscheine für Suse Linux Enterprise Server, aber erzielte damit auch zusätzliche Support-Umsätze.

Kuhhandel

In die Übergangsphase vom Open-Source-Hasser zum -Freund fiel ebenfalls ein Kuhhandel des Software Freedom Law Center: Es zahlte 10.000 Euro an Microsoft für die Dokumentation zu den Netzwerkprotokollen, die Windows-Server verwenden. Die Dokumente gab das Center unter einer Vertraulichkeitsvereinbarung vereinbarungsgemäß an die Samba-Entwickler weiter, die an einer freien Alternative zu Windows-Servern arbeiteten. Dazu gehörte auch eine Liste der Patente, sodass die Samba-Entwickler drumherum coden konnten. Erstmals waren die nicht nur auf ihre Erkenntnisse aus Forschung am lebendigen Objekt angewiesen.

Die Vereinbarung nahm eine große Veröffentlichungswelle von Protokollspezifikationen vorweg, zu der Microsoft durch mehrere Gerichtsurteile verdonnert worden war. Microsoft wusste die Urteile natürlich PR-mäßig auszuschlachten und startete 2008 eine „Open Source Interoperability Initiative“. Ballmer selbst kündigte „weiterreichende Änderungen“ in einer eigens dafür anberaumten Pressekonferenz an und erklärte vier neue Prinzipien zum Standard, die heise online so übersetzte: „Offene Schnittstellen, Unterstützung von Standards, Portabilität von Daten und schließlich bessere Zusammenarbeit mit Dritten“.

Bei der Veröffentlichung der Protokolle gab sich das Unternehmen Mühe und beschäftigte viele Mitarbeiter damit, nicht nur die Dokumentation zu erstellen, sondern auch ihre Korrektheit zu überprüfen. Auf den jährlich stattfindenden SambaXP-Konferenzen berichteten Microsoft Mitarbeiter von dieser Arbeit und man konnte dort erleben, wie kooperativ die Entwickler der nunmehr dokumentierten Closed-Source-Software und die Open-Source-Freunde einander begegneten.

Patente bleiben dennoch ein Reizthema – seit Ende 2018 scheint ein Deckel darauf zu sein: Microsoft schloss sich dem Open Invention Network (OIN) an. Die Mitglieder dieser Vereinigung gestatten sich kostenlos und unlimitiert den Rückgriff auf ihre Patente. Dafür wird erwartet, dass die Mitglieder ihre Patente nicht gegen die Linux-Community einsetzen. Das soll Open-Source-Software vor Patentangriffen schützen. Microsoft brachte 60.000 Patente in das Netzwerk ein.

Halbe Strecke?

Den erklärten besten Absichten mit Open Source folgte eine innige Umarmung, die bis heute anhält: Mit Codeplex startete das Unternehmen eine Austauschplattform für Open-Source-Code. Später schluckte es GitHub. Bei der Integration der Hyper-V-Funktionen in den Linux-Kernel stand Microsoft sogar mal auf Platz fünf der Liste der Firmen, die am meisten beitragen. GPL als Lizenz wurde sogar salonfähig. Die Liste der unter gängigen Open-Source-Lizenzen veröffentlichten Projekte von Microsoft ist lang und enthielt nicht nur Naheliegendes, sondern auch Überraschendes: Windows Terminal und Taschenrechner seien genannt. In Windows stecken inzwischen curl und tar.

Microsoft ist aber längst noch keine Open-Source-Firma. Nicht nur die Schlüsselprodukte werden nach wie vor hinter verschlossenen Türen entwickelt oder erst gar nicht in einer Linux-Version veröffentlicht, wie etwa Office. Ein Mangel an Offenheit betrifft auch viel „Beiwerk“: Ein aus unserer Sicht wohl umgrenzter Fehler in Autoruns, der Nutzer unseres Notfallsystems gebissen hat, ließe sich mit Quelltext vermutlich schnell beheben – leider blieben bisher alle Versuche, mit Microsoft dazu in Kontakt zu kommen, folgenlos. Das Unternehmen hat sich eben dem Open-Source-Gedanken nicht vollends verschrieben.

Auch die Attitüde ist geblieben: Gewohnt Windows-zentrisch heißt es „Windows-Subsystem für Linux“ und nicht „Linux-Subsystem für Windows“. Und: Microsoft konzentriert sein Geschäft auf die Cloud. In Azure laufen zwar schon lange mehr als die Hälfte der Systeme mit Linux und viele Dienste entsprechen gängigen Standards, doch auch Microsofts proprietäre Angebote spielen dort eine gewichtige Rolle.

Die langfristige Microsoft-Strategie scheint klar: Immer mehr bisher autonom einsetzbare Dienste zukünftig nur noch in seiner Cloud anzubieten; Exchange macht dabei den Anfang. Es gibt zwei Möglichkeiten damit umzugehen: Man sucht sich vorher eine Alternative, um die Daten auf eigenen Computern aufzubewahren, oder man vertraut darauf, dass Microsoft weiterhin die Schnittstellen für den Zugriff auf die Cloud-Dienste umfangreich dokumentiert. Dass sich offen zugängliche Dokumentation auszahlt, hat der Konzern inzwischen wohl verinnerlicht. Trotzdem dürfte Microsoft auf ausgewählten Geheimnissen weiterhin glucken. (ps@ct.de)

Weitere Infos: ct.de/yk9h

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