c't 11/2024
S. 3
Standpunkt
Bild: Hans Jürgen Marhenke

Am Scheideweg: Genie oder Wahnsinn?

Generative künstliche Intelligenz kann und soll den Menschen nicht ersetzen, beruhigen Unternehmen und Wirtschaftsverbände unisono. Um dann gleich hinterherzuschieben: Sie wird nur diejenigen ersetzen, die sie nicht zu nutzen wissen. Das ist eine unverhohlene Drohung: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Wer davon beeindruckt jetzt überhastet auf den Zug aufspringt und glaubt, mit teuer lizenzierten Text- und Bildgeneratoren alle Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit auf einen Schlag ungeschehen machen zu können, könnte in einigen Jahren als großer Verlierer dastehen.

Je mehr Machine-Learning-Systeme vermeintlich das Denken beherrschen und je mehr menschliche Fähigkeiten sie simulieren, umso wachsamer und kritischer muss der Mensch werden – und sich bei aller Begeisterung fürs technisch Mögliche seine Stärken bewahren: politische und kulturelle Entwicklungen selbst gestalten, wissenschaftliches Denken pflegen, vernünftige Entscheidungen treffen, der Technik nicht blind vertrauen.

ChatGPT schreibt passable Texte in allen nur erdenklichen Stilrichtungen? Ja, aber meist ziemlich durchschnittliche mit stereotypen Formulierungen und bisweilen absurden Fehlern. Edelfederqualitäten sucht man vergeblich. Die KI bewirkt, dass auf dem Gruppenfoto alle lächeln? Wie langweilig, die vielfältige menschliche Mimik darauf zu reduzieren! Googles Med-PaLM 2 beantwortet medizinische Fragen ähnlich gut wie Ärzte? Beeindruckend, aber bisher nur in standardisierten Benchmarks. Abgesehen davon werden internationale Medizinplattformen unser Gesundheitssystem garantiert nicht retten, sondern auspressen wie eine Zitrone.

Wie wertvoll das menschliche Original noch ist, demonstrieren die Tech-Firmen mit ihrer verzweifelten Suche nach authentischen Trainingsdaten gerade selbst. Wenn man die großen Sprachmodelle mit KI-generiertem Content füttert, degenerieren sie nach wenigen Trainingsdurchläufen derart, dass sie nur noch Blödsinn von sich geben. KI kann uns jetzt in vielem Alltäglichen unterstützen, und das ist ein Geschenk. Aber wir sollten bedacht handeln. Denn wenn wir uns mit einem blauäugigen Hurra ins vermeintliche Vergnügen stürzen, kommen wir vermutlich nicht mit einem blauen Auge aus der Sache heraus.

Andrea Trinkwalder
Andrea Trinkwalder

Andrea Trinkwalder

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