c't 7/2023
S. 128
Wissen
Digitalisierung

Spät dran

Single Digital Gateway: Warum Deutschland bald die nächste Digitalisierungsfrist reißt

Onlinedienste für alle EU-Bürger, automatischer Austausch von Nachweisen – bis Mitte Dezember müssen alle EU-Länder ehrgeizige Digitalisierungsziele erreichen. Spoiler: Deutschland hinkt mal wieder weit hinterher.

Von Christian Wölbert

Ein wichtiges Etappenziel zur Digitalisierung der Verwaltung hat Deutschland neulich verfehlt: Laut Onlinezugangsgesetz (OZG) mussten die Behörden bis Ende Dezember rund 580 Onlinedienste bereitstellen – für Bauanträge, Elterngeld, Wohnsitzummeldung & Co. Doch zum Stichtag waren gerade einmal rund 100 Leistungen flächendeckend online.

Bald läuft für die Behörden die nächste Frist ab, gesetzt von Brüssel statt Berlin: Bis zum 12. Dezember 2023 müssen sie die Single-Digital-Gateway-Verordnung (SDG) der EU umsetzen. Das im Oktober 2018 erlassene Gesetz ist außerhalb von Verwaltungskreisen bislang kaum bekannt, es verlangt aber ehrgeizige Digitalisierungsschritte. Und anders als beim OZG kann die Nichteinhaltung sanktioniert werden: Die EU-Kommission könnte ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten und am Ende auch Geldstrafen verhängen.

Berlin handelte längere Frist aus

Ursprünglich wollte die Kommission den Mitgliedsstaaten sogar nur zwei Jahre Zeit für die Umsetzung der SDG-Verordnung lassen. Die Bundesregierung setzte sich in den Verhandlungen mit der Kommission und den anderen Staaten aber erfolgreich für eine fünfjährige Frist ein.

Die erste wichtige Vorgabe findet sich in Artikel 6 der Verordnung: Jeder Mitgliedsstaat muss bis zum Stichtag im Dezember 21 Verwaltungsleistungen online anbieten, und zwar für alle EU-Bürger und Unternehmen (siehe Tabelle auf S. 129) So soll zum Beispiel ein französischer Staatsbürger seinen Wohnsitz innerhalb Deutschlands online ummelden können oder ein Deutscher in Frankreich online ein Gewerbe registrieren können. Auf der Website „Your Europe“ sammelt die EU-Kommission Links zu den Onlinediensten der Mitgliedsstaaten, damit jeder EU-Bürger diese unabhängig von seinen Sprachkenntnissen findet.

Im Portal „Your Europe“ verlinkt die EU-Kommission die Onlinedienste, die Mitgliedsstaaten europaweit anbieten müssen.
Im Portal „Your Europe“ verlinkt die EU-Kommission die Onlinedienste, die Mitgliedsstaaten europaweit anbieten müssen.

Da die EU die 21 Pflichtverfahren relativ schwammig definiert, können sich dahinter je nach Mitgliedsstaat deutlich mehr Verwaltungsaufgaben verbergen. Deutschland zum Beispiel muss laut der „OZG-Informationsplattfom“ der Bundesregierung 43 OZG-Leistungsbündel digitalisieren, um Artikel 6 der SDG-Verordnung zu erfüllen. In diesen 43 Bündeln stecken insgesamt 328 Leistungen aus dem „Leistungskatalog der öffentlichen Verwaltung“, der einzelne Prozesse definiert wie „Jahresmeldung zur Sozialversicherung Entgegennahme“.

Für Digitalisierungsvorreiter wie Dänemark, Finnland, Estland oder Österreich stellt Artikel 6 kaum eine Hürde dar. Deutschland wird die Liste bis Dezember jedoch definitiv nicht vollständig abarbeiten. Selbst die betroffenen Bundesbehörden werden nach einer Einschätzung des Bundesinnenministeriums (BMI) nicht rechtzeitig fertig. Bei „relevanten Bundesleistungen“ werde „ein Großteil der Anforderungen“ bis Dezember umgesetzt, sagte eine BMI-Sprecherin gegenüber c’t.

Wenig Durchblick, wenig Ehrgeiz

Eine Reihe von SDG-Leistungen fällt in die Zuständigkeit der Länder und Kommunen, wo die Digitalisierung noch viel zäher voranschreitet als beim Bund. Zum Beispiel muss man in Deutschland fast überall persönlich zum Amt, um seinen Wohnsitz umzumelden. Hamburg führte im September einen Onlinedienst für die Ummeldung ein, doch es dürften noch einige Jahre ins Land gehen, bis die vielen Tausend anderen Kommunen den Dienst adaptiert haben. Auch die Kfz-Zulassung, die Gewerbeanmeldung und Registerauskünfte sind in Deutschland noch nicht flächendeckend übers Internet möglich [1].

Wie weit die Kommunen bei der SDG-Umsetzung genau sind, lässt sich kaum sagen, denn die Bundesregierung erfasst das nicht. „Inwieweit die relevanten föderalen Leistungen bis Ende 2023 flächendeckend online bereitgestellt werden können, ist momentan nicht zu sagen“, teilte das BMI mit. Hannes Kühn, Leiter des Sekretariats des Nationalen Normenkontrollrats (NKR), kritisiert diese mangelnde Transparenz: „Was man nicht misst, kann man nicht steuern.“

Bundesregierung und die Bundesländer wirkten zumindest bislang nicht bemüht, die SDG-relevanten Verwaltungsleistungen schneller zu digitalisieren als andere. Im Mai 2022 vereinbarten Bund und Länder die Priorisierung von 35 OZG-Leistungen. Auf der Liste fehlen diverse SDG-Leistungen, dafür sind Dinge wie die Waffenscheinerteilung und die Genehmigung der Ausfuhr von Kulturgütern enthalten. „Es ist verwunderlich, dass die SDG-Leistungen keine stärkere Rolle bei der Priorisierung gespielt haben“, sagt der E-Government-Experte Kühn.

Lasst die Daten laufen

Artikel 14 der SDG-Verordnung stellt den Behörden eine weitere, noch anspruchsvollere Aufgabe: Ab dem 12. Dezember müssen sie zur Abwicklung der 21 Verfahren automatisiert Nachweise an Behörden aus anderen Mitgliedsstaaten übermitteln – sowie selbst Nachweise aus dem Ausland abrufen. Will zum Beispiel ein Deutscher in Dänemark ein Unternehmen gründen, sollen die dänischen Behörden die dafür nötigen Dokumente sofort übers Internet von deutschen Behörden herunterladen können. Niemand soll gezwungen sein, selbst Nachweise von einer Behörde zur anderen zu tragen. Fachleute sprechen vom „Once-Only-Prinzip“.

Die Pflicht gilt immer dann, wenn Behörden auch den Bürgern ihres eigenen Landes Nachweise in digitaler Form ausstellen – in Deutschland sind das zum Beispiel Auszüge aus den Handels- und Melderegistern. Vor dem Nachweisabruf müssen die Behörden diesen in einer „Preview“ anzeigen. Erst danach entscheidet der Nutzer, ob die Daten tatsächlich fließen sollen oder nicht.

Deutschland steht bei der Umsetzung von Artikel 14 vor dem Problem, dass die „Registerlandschaft“ hierzulande extrem zersplittert ist: Es gibt nur wenige nationale Datenbanken (wie das Waffenregister und das Fahreignungsregister), aber viele kleine Silos auf Länderebene oder gar bei den Kommunen. Zum Beispiel gibt es in Deutschland rund 5000 Melderegister, die aber immerhin mit größeren Registern auf Länderebene vernetzt sind.

Das Unterfangen, jedes von Artikel 14 betroffene deutsche Register direkt an das Nachweisaustauschsystem der EU anzuschließen, wäre ziemlich aussichtslos. Dafür müsste jede Registerbehörde die von der EU-Kommission vorgegebenen Kommunikationsstandards implementieren, zusätzlich zu den bisher innerhalb Deutschlands genutzten Standards.

Sportlich selbst für Dänemark

Bund und Länder wollen deshalb sogenannte „Intermediäre Plattformen“ entwickeln, die zwischen den EU- und den verschiedenen deutschen Standards übersetzen. Auch die Authentifizierung der Nutzer, die Preview-Funktion und weitere Aufgaben sollen diese Plattformen übernehmen.

Bei der Entwicklung der Plattformen steht Deutschland noch am Anfang. Bund und Länder beschlossen erst im November formell, auf diese zu setzen. Eine Arbeitsgruppe soll nun „ein Konzept zur technischen, rechtlichen und organisatorischen Ausgestaltung“ vorlegen. Welche nationalen Register sich an die Vermittlungsplattformen anschließen müssen und wie das technisch genau ablaufen soll, ist noch unklar. Wann Deutschland die Anforderungen von Artikel 14 erfüllt, lässt sich deshalb kaum abschätzen.

Einen Großteil dieser Sisyphusarbeit müssten die Behörden auch ohne SDG-Verordnung leisten, denn mit dem Projekt „Registermodernisierung“ wollen Bund und Länder auch innerhalb Deutschlands das Once-Only-Prinzip verwirklichen – bis Ende 2025. Eine grobe Vorahnung von der Größe dieser Aufgabe vermittelt die Mitte Dezember veröffentlichte, 360 Seiten starke Version 0.9 der „Technical Design Documents“ für das „Nationale Once-Only-Technical-System (NOOTS)“.

Selbst kleine kommunale Register müssten „grundsätzlich alle Anforderungen des NOOTS zu Datenbereitstellung und Nachweiskommunikation und -präsentation sowie zumindest die Anforderungen des EU-OOTS an Datenbereitstellung, wie etwa Verfügbarkeit, erfüllen“, heißt es darin (ct.de/yqeh). Es sei deshalb „überlegenswert“, komplett neue „Spiegelregister“ oder „Abrufportale“ zu entwickeln. Entscheiden müssten darüber die „Gremienstrukturen der jeweiligen Fachlichkeit“, also die Ministerien und Behörden der einzelnen Bundesländer. Kurzum: Das Ganze wird nicht ein paar Monate dauern, sondern viele Jahre.

Einen Trost gibt es aus deutscher Sicht: Fachleute gehen davon aus, dass auch die anderen EU-Mitgliedsstaaten ihre Datenbanken nicht pünktlich bis zum 12. Dezember an das Nachweisaustauschsystem der EU-Kommission anschließen. Die Kommission hat die technischen Vorgaben nach langwierigen Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten nämlich erst im August 2022 veröffentlicht, 15 Monate später als geplant (siehe ct.de/yqeh). Artikel 14 stellt deshalb selbst für Musterschüler wie Dänemark oder Estland eine sportliche Aufgabe dar.

Und zumindest in Sachen OZG können die Behörden sich künftig entspannen: In die geplante Neuauflage des Gesetzes („OZG 2.0“) will die Bundesregierung kein Zieldatum mehr einbauen. (cwo@ct.de)

Verpflichtende Onlineverfahren gemäß SDG
ab 12. Dezember 2023
1) Antrag auf Nachweis über die Eintragung in das Geburtenregister
2) Antrag auf Wohnsitznachweis
3) Antrag auf Finanzierung für ein Hochschulstudium
4) Antrag auf Zulassung zu einer Hochschule
5) Antrag auf Anerkennung von Diplomen / Zeugnissen / Nachweisen
6) Antrag auf Bestimmung des anwendbaren Rechts (z. B. bei Tätigkeit in zwei Mitgliedsstaaten)
7) Mitteilung einer Änderung der Situation eines Empfängers von Sozialversicherungsleistungen
8) Antrag auf Ausstellung einer Europäischen Krankenversicherungskarte
9) Einreichung einer Einkommensteuererklärung
10) Meldung einer Adressänderung
11) Kfz-Zulassung
12) Antrag auf Plakette / Vignette für Straßennutzung
13) Antrag auf Emissionsplakette
14) Antrag auf Ruhestands- / Vorruhestandsleistungen
15) Ersuchen um Informationen im Zusammenhang mit Ruhestandsleistungen
16) Meldung einer Geschäftstätigkeit, Zulassung zur Ausübung einer Geschäftstätigkeit, ...
17) Registrierung eines Arbeitgebers bei Versorgungs- und Versicherungssystemen
18) Registrierung von Beschäftigten bei Versorgungs- und Versicherungssystemen
19) Einreichung einer Körperschaftsteuererklärung
20) Meldung an die Sozialversicherungssysteme bei Beendigung des Vertrags mit einem Beschäftigten
21) Zahlung von Sozialbeiträgen für Beschäftigte

Once-Only-Konzepte: ct.de/yqeh

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