c't 23/2022
S. 184
Story
Gubbio
Bild: Michael Vogt

Gubbio

Mo sucht ihren verschwundenen Vater in der abgelegenen Firmensiedlung, in der sie aufgewachsen ist. Der einst reiche Ort scheint in der andauernden Weltwirtschaftskrise verlassen worden zu sein, doch birgt er ein Geheimnis, das irgendwie mit der unvollendeten Arbeit von Mos Vater zu tun hat.

Von Michael Rapp

Mo setzte sich auf die Liege am Pool, die Eiswürfel klangen im Wasserglas. Sie hörte Musik, die eine KI nach ihren Vorlieben erzeugte, und ging auf dem Smartphone die Korrespondenz ihres Vaters durch. Zuletzt hatte sie ihn per Videochat gesprochen und wie so oft hatte ihr Gespräch im Streit über seine ehemalige Arbeit geendet. Das Gubbio-Projekt, das nun gottlob Geschichte war, auch wenn er das noch nicht zu begreifen schien. Danach hatte sie weder ihn noch seine Nachbarn erreichen können und auf ihre Textnachrichten hatte er nicht reagiert. Mo hatte mit ihrem E-Bike die Zentren der Aufstände umfahren und die letzten drei Nächte unter Bäumen und einer Brücke kampiert, nur um das Haus, in dem sie aufgewachsen war, leer vorzufinden. Sie seufzte, ließ das Smartphone sinken. In seinen Mails ging es um ausstehende Lohnzahlungen seines ehemaligen Arbeitgebers, um die Lebensmittelknappheit, um Laubnetze für den Pool und ähnliche alltägliche Probleme, doch gab es keinen Hinweis darauf, wohin er verschwunden war.

Etwas zupfte an ihrem linken In-Ear-Kopfhörer. Bevor sie reagieren konnte, löste er sich aus dem Ohr, rutschte über ihre Schulter und fiel neben ihr auf die Liege. Sie wollte danach greifen, als sich das kleine Gerät bewegte. Erst wackelte es, dann fiel es auf die Seite. Schließlich befreite sich ein schillernder Käfer von der Last und schüttelte sich.

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