c't 2/2022
S. 3
Standpunkt

Digitalisierungsdünkel

Denk ich an Digitalisierung in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht ... und kriege Schaum vorm Mund.

Wir sind: in einer Gesellschaft, in der die Postbank (sic!) mehr als zehn Wochen braucht, um das Konto einer Verstorbenen aufzulösen. In einer Gesellschaft, in der ältere Menschen systematisch von der Teilhabe ausgeschlossen werden, etwa bei Besuchen in Heimen und Krankenhäusern, indem der für sie obligatorische Coronatest ohne Smartphone eine große QR-Code-Schikane ist. In einer Gesellschaft, die dem bargeldlosen Bezahlen einer Gebühr für die Bibliotheksmitgliedschaft so viele bürokratische Hürden vorweg stellt, dass man lieber Bargeld abwirft.

Eine Gesellschaft, die sich vor einer modernen Direktbank aka Fintech wie N26 fürchtet, weil sie zeigt, wie Bank ohne Bürokratiemonster gehen kann. Eine Gesellschaft, die sich einen riesigen Apparat zum Betrieb von Bürgerbüros leistet, der von Dienstleistung so weit entfernt ist wie ein Elefant vom Mikadospiel. Eine Gesellschaft mit Krankenversicherungen, die E-Mails ablehnen, weil sie PGP-signiert sind. Eine Gesellschaft, deren Gesundheitsämter eilige Daten per Fax verschicken.

Schon lange tanzt uns ein Juristentross auf der Nase herum. Kaum ist etwas digitalisiert, sind sie schon da und stellen einen kreativen Hindernisparcours drumherum. Der sichert weiteren Exemplaren ihrer Art das Überleben und wirft dem nicht digitalisierten Teil der Gesellschaft Knüppel zwischen die Klicks. Erklären Sie Opa mal die Cookiebanner auf seiner Vereins-Website!

Ach je, Sie werden die Liste fortschreiben und mit Ihren Erfahrungen ergänzen können. Der Erkenntnisgewinn aber ist, dass nicht "die da oben", sondern wir alle mindestens mit Schuld sind, dass sich wenig bewegt. Im Grunde unseres Wesens sind wir alle Feinde der Veränderung. Damit die Digitalisierung gelingt, müssen wir alle mitmachen und alle mitnehmen. Immerhin sind wir die Minister jetzt los, die Flugtaxi sagen und Faxe verschicken oder nur Autobahnen für voll nehmen, die nach Benzin riechen. Insofern kann es nur besser werden.

Peter Siering

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