c't 14/2022
S. 3
Standpunkt

Chatkontrolle: Tech-Solutionismus auf Speed

Der Kindesmissbrauchskomplex von Wermelskirchen hat gerade wieder einmal deutlich gemacht, mit welch unfassbarer Brutalität kriminelle Pädophile vorgehen. Ein üblicher, wohlfeiler politischer Reflex folgt stante pede: NRW-Innenminister Herbert Reul "verzweifelt am Datenschutz", greift in die sicherheitspolitische Mottenkiste und fordert die anlasslose Speicherung von IP-Adressen aller Bürger – obwohl diese Vorratsdatenspeicherung wiederholt von den höchsten Gerichten kassiert worden ist. Bundesinnenministerin Nancy Faeser laviert populistisch herum und fordert eine "Speicherung von IP-Adressen", ohne zu erklären, wie lange und aus welchem Anlass das geschehen könnte (siehe S. 31).

Gleichzeitig plant die EU-Kommission gar, alle bürgerrechtlichen Errungenschaften, die Europa zum weltweiten Vorbild machten, mit dem Hintern einzureißen: Die Datenschutz-Grundverordnung wird ad absurdum geführt, wenn die EU parallel die gesamte Kommunikation der Bürger – selbst die verschlüsselte – von US-Konzernen auf der Suche nach vermeintlichen "kinderpornografischen Darstellungen" durchleuchten lassen will. Diese sogenannte "Chatkontrolle" steht für einen völlig irrwitzigen Tech-Solutionismus. Offensichtlich unterliegen die politischen Entscheider zunehmend dem Silicon-Valley-Glauben, dass man jedes Problem lösen kann, wenn man nur genug "KI", Algorithmen und Massenspeicher draufwirft.

Die Folge? Unbeteiligte geraten ins Visier von Ermittlern, Geheimnisträger wie Journalisten, Anwälte oder Ärzte verlieren Vertrauen, Grundrechte von Bürgern kommen unter die Räder. Die EU plant tatsächlich, ihren Bürgern im Digitalen sämtliche privaten Schutzräume zu entziehen. Es entstünde ein kaum reparabler Kollateralschaden, der vermeidbar wäre, wenn die Staaten tun würden, was ihr Auftrag ist. Ermittlungsbehörden und Präventionsstellen gehören finanziell so ausgestattet, dass dort die besten Pädagogen, IT-Fachkräfte und Strafverfolger nur ein Ziel verfolgen: Das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen. Es ist ein fataler Irrtum, diese Aufgabe an private Plattformen und deren Technik auslagern zu wollen.

Holger Bleich
Holger Bleich

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