c't 13/2022
S. 50
Aktuell
Gesundheitsdaten

EU-Patienten im Netz

Die EU plant einen gemeinsamen Gesundheitsdatenraum

Die EU möchte einen Datenraum zum interoperablen Austausch von Gesundheitsdaten schaffen. Räumt sie Datenschutzbedenken aus, könnte dies der medizinischen Behandlung und Forschung europaweit nützen.

Von Detlef Borchers

Europa soll in den nächsten zehn Jahren einen eigenen Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) bekommen. Das Projekt ist eines von neun „Datenräumen“ von A wie Agriculture bis T wie Tourism. Sie sollen allen EU-Bürgern offen stehen, unabhängig davon, in welchem EU-Land sie sich aufhalten. Für Gesundheitsdaten hat die Europäische Kommission Anfang Mai Dokumente und einen Verordnungsentwurf veröffentlicht, die diesen Raum beschreiben – und neben Vorteilen wie Interoperabilität auch Anlass zur Sorge geben.

Demnach soll der europäische Gesundheitsdatenraum bis zum Jahr 2030 entstehen und rund 13 Milliarden Euro kosten. Zu den Zielen zählt, dass er beispielsweise Doppeluntersuchungen vermeiden und so jährlich 5,5 Milliarden Euro im Gesundheitswesen sparen soll. Zugleich soll er der Gesundheitsforschung wie der Pharmaindustrie einen Markt mit einem Jahresvolumen von 5,4 Milliarden Euro erschließen. Im Gesundheitsdatenraum könnte ein Arzt auf die Akte eines Patienten aus einem beliebigen EU-Land zugreifen, die Notfalldaten, den Medikationsplan und mindestens eine Kurzakte enthält. Ebenso wären Laborwerte, Daten aus bildgebenden Verfahren und Genomdaten in einem gemeinsamen europäischen Format denkbar.

Pharma und Forschung

Überdies könnte der Gesundheitsdatenraum nach den Plänen der EU-Kommission Daten speichern, die aus klinischen Studien stammen, außerdem Sozialdaten sowie Daten zum Lebensstil, sofern sie Einfluss auf die Gesundheit haben. Diese würden dann in anonymisierter Form der Forschung und der Industrie zur Verfügung gestellt. Zusätzlich enthält der nun veröffentlichte Verordnungsentwurf auch das Szenario, dass KI-Algorithmen auf die Daten zugreifen sollen, um Krankheiten oder Epidemien frühzeitig zu erkennen: „Über den EHDS hat ein Unternehmen einen sicheren und effizienten Zugriff auf große Datensätze, mit denen es einen KI-Algorithmus trainieren und verbessern kann, ehe die Marktzulassung beantragt wird“, heißt es in einer FAQ.

Damit der EHDS funktioniert, bekäme jeder EU-Bürger eine digitale ID, auf die er in einem „Digital Identity Wallet“ zugreifen kann. Mithilfe der ID schaltet er den Datenzugriff eines Arztes frei (Primärnutzung) und kann die Erlaubnis erteilen, Daten für Forschungszwecke zu nutzen (Sekundärnutzung).

Reversible Anonymität

Um die Zusammenarbeit von Primärnutzern wie Ärzten, Sekundärnutzern wie Gesundheitsforschern und Unternehmen sowie Behörden zu regeln, sieht der Verordnungsentwurf ein „European Health Data Space Board“ vor. Dort sind die zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten vertreten. Für Deutschland wäre dies das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ Gesundheit) am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Das FDZ Gesundheit ist zusammen mit der Projektgesellschaft Gematik, die das deutsche Gesundheitswesen digitalisieren soll, Mitglied in der Initiative TEHDAS („Towards European Health Data Space“). Während die Pläne der EU bislang eine aktive Einwilligung der Bürger zur Nutzung ihrer Daten für Forschungszwecke vorsehen, macht sich TEHDAS stattdessen für eine Opt-out-Lösung stark, sprich: Voreingestellt wäre eine Freigabe der Daten.

Diskutiert wird zudem ein Vorschlag, dass etwa während einer Pandemie die Patientendaten deanonymisiert werden könnten. Sollte die Anonymisierung jedoch technisch reversibel sein, wäre sie bestenfalls nur noch eine Pseudonymisierung. Immerhin will die Kommission den Verkauf der Daten an Dritte oder die Nutzung durch Versicherungen und ähnliche Unternehmen strikt verbieten.

Bedenklich ist, dass es im Vorfeld der Verordnungsvorlage zwar eine Interessensanhörung von Organisationen wie der European Cancer Organisation (Europäische Krebsorganisation) oder EURORDIS (Europäische Organisation für seltene Krankheiten) gab, aber keine direkte Bürgerbeteiligung. Zur Vorstellung der Vorlage versicherte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides lediglich, dass Patientenorganisationen in dem zu schaffenden EHDS Board vertreten sein sollen.

Eine deutsche Übersetzung der rund hundert Seiten umfassenden Vorlage will die Europäische Kommission Ende Mai veröffentlichen. Formell müsste das EU-Parlament die Verordnung beschließen und diese anschließend den Europäischen Rat passieren. Alternativ sind sogenannte Trilog-Verhandlungen über einen Kompromiss zwischen Kommission, Rat und Parlament denkbar. (mon@ct.de)

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides möchte die Gesundheitsdaten aller EU-Bürger in einem großen Pool für Industrie und Forschung sammeln., Bild: Christoph Soeder / dpa
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides möchte die Gesundheitsdaten aller EU-Bürger in einem großen Pool für Industrie und Forschung sammeln.
Bild: Christoph Soeder / dpa

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