c't 13/2022
S. 182
Story
Willkommen im Mind-Live-Stream
Bild: Albert Hulm

Willkommen im Mind-Live-Stream

An den alltäglichen Freuden und Traurigkeiten anderer teilhaben, ohne Umweg über träge, anfällige Kameratechnik: Das Mind-Live-Streaming, eine der Errungenschaften nach der Robo-Wende, machts möglich. Dabei werden aus völlig Fremden blitzschnell gute Bekannte, über die man fast mehr weiß als über sich selbst und die eigenen Hausgenossen.

Von Aiki Mira

An sonnigen Tagen wie heute erscheint mir die Mikrovilla mit dem funkelnden Kunstrasen so irreal wie aus einem Werbe-Holo. Was macht Till hier draußen? Oder überhaupt den ganzen Tag? Ich habe das Arbeitszimmer nur verlassen, um mir ein bisschen die Beine zu vertreten. Ist das neben ihm die neue Hilfskraft? Sie sieht verdammt jung aus, findet ihr nicht? Bei ihrem Anblick wird mir bewusst, dass ich zu viel sitze. Fast acht Stunden am Tag. Noch vor Sonnenaufgang hänge ich am Schreibtisch und hämmere in die weiche Oberfläche meines Senso-Pads. Das nennt sich obere Mittelklasse. Zu der ihr auch gehört – behaupten zumindest meine Data-Insights. Die Robo-Wende hat in Deutschland vieles zum Besseren verändert, gern gebe ich etwas zurück. Schaut mal in meine Bio, dort findet ihr eine Auswahl meiner aktuellen Charity-Events.

Die Neue stellt sich als Doro vor. Das ist wohl die Abkürzung für Dorothea. Sie behauptet, sie könne sich in unter sechs Minuten aufladen. So möchte ich auch durcharbeiten können! Jetzt fühle ich mich richtig alt! Ich schicke sie ins Haus, damit Andrea ihr eine Einweisung gibt. Till sagt kein Wort. Wegen seines Sonnenvisiers kann ich nicht einmal sagen, ob seine Augen offen sind.

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