c't 1/2022
S. 38
Aktuell
E-Rezept

Rezeptfreie Digitalisierung

Schwere Versäumnisse vor Einführung des E-Rezeptes

In der Testphase von Juli bis Anfang Dezember konnten nur 42 elektronische Rezepte erfolgreich ausgestellt und eingelöst werden. Das ist zu wenig für den geplanten bundesweiten Start des E-Rezepts Anfang Januar, kritisieren Ärzte und Apotheker.

Von Detlef Borchers

In einem offenen Brief haben zahlreiche bundesdeutsche Arzt- und Apothekerverbände massive Bedenken an der geplanten Einführung des E-Rezeptes zum 3. Januar geäußert. Bisher sollen in der Testregion Berlin-Brandenburg nur 42 solcher Rezepte in einer Arztpraxis ausgestellt und in einer Apotheke eingelöst worden sein. Überdies war nach Darstellung der Ärzteschaft bisher kein einziges Krankenhaus am Test beteiligt.

Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (rechts) muss viele Fehlentwicklungen unter seinem Vorgänger Jens Spahn (links) korrigieren.
Bild: Michael Kappeler/dpa

Einen Tag nach der Veröffentlichung des Schreibens legte Vorstandsmitglied Thomas Kriedel von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) auf der Vertreterversammlung seiner Organisation nach: Wenn von 1000 angestrebten Rezepten nur 42 erfolgreich über die telematische Infrastruktur des Gesundheitswesens (TI) übertragen worden seien, dann müsse man „klipp und klar wie in der Schule urteilen: durchgefallen“. Kriedel warf der für die TI und das E-Rezept zuständigen Projektgesellschaft Gematik vor, sie würde sich in einer „Vordenkerpose“ gefallen, anstatt sich um die Alltagsprobleme zu kümmern. Rezepte würden im ärztlichen „Schwarzbrot-Alltag“ jedoch millionenfach ausgestellt, da müsse es einfach klappen.

Auch beim zweiten Projekt, der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), sind die Probleme nach Angaben von Kriedel weiterhin gravierend. Nach einer KBV-Umfrage unter 1500 kassenärztlichen Vertragspraxen sollen nur vier Prozent von ihnen eine eAU erfolgreich an die Krankenkasse übermittelt haben. Bei der Hälfte der Befragten sei der Versand noch überhaupt nicht möglich gewesen. Deshalb habe die KBV eine Richtlinie herausgegeben, die es als Notlösung bis zur Jahresmitte 2022 gestatte, klassische Rezepte und AU-Bescheinigungen auf Papier auszudrucken.

Die Gematik spricht weiterhin von einem „erfolgreichen Test“. Sie konterte den Protest der Ärzte mit einer Pressemeldung, die den Schwarzen Peter den Krankenkassen und den Software-Herstellern zuschiebt. „Trotz des mehrfachen Angebots haben bisher nur vier Praxisverwaltungssysteme an der Testphase teilgenommen, obwohl der Marktanteil der von der KBV zertifizierten Praxisverwaltungssysteme bereits bei 94 Prozent liegt.“ Damit begründet die Gematik auch, dass sie den bundesweiten Test des E-Rezeptes von Oktober auf Dezember verschoben hat, am Starttermin 3. Januar 2022 aber festhält. „Ein Projekt dieser Größenordnung kann nur gemeinsam mit allen Beteiligten und Partnern gelingen“, sagt die Gematik.

Ob alle Beteiligten künftig am gleichen Strang ziehen, wird nicht zuletzt vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) abhängen, das mit 51 Prozent Mehrheitsgesellschafter bei der Gematik ist und Entscheidungen auch gegen den Willen von Ärzte- und Apothekerverbänden durchsetzen kann.

Hoffnung auf Lauterbach

Mit der Berufung von Karl Lauterbach zum Gesundheitsminister hat Bundeskanzler Olaf Scholz immerhin einen unbequemen Fachmann auf den Posten gesetzt, der nach wissenschaftlichen Kriterien entscheidet. Unter Jens Spahn galten hingegen politische Imperative: So gab er Ende November in einer Talkshow bei Anne Will zu, Pläne für die nächste Infektionswelle hintangestellt zu haben, weil dies den Wahlkampf torpediert hätte.

Nimmt man die ersten hundert Tage zur Richtschnur, so wird für Lauterbach sicherlich die Strategie im Kampf gegen die Pandemie im Vordergrund stehen. Doch die Digitalisierung des Gesundheitswesens folgt dicht dahinter. Dabei wird der neue Gesundheitsminister sich auch mit den IT-Problemen auseinandersetzen müssen.

So hat die KBV Lauterbach zwar umgehend als „versiertem Kenner des Gesundheitswesens“ zum Amt gratuliert, doch eine Passage in der bereits zitierten Rede von Thomas Kriedel deutet erstes Konfliktpotenzial an: Demnach habe die KBV bei den TI-Erstattungspauschalen, also den Geldern, die niedergelassene Vertragsärzte für die Anschaffungen von Konnektoren, für Software-Updates, Ausweiskarten und andere Aufwendungen erhalten, eine massive Unterdeckung festgestellt – die Rede ist von etwa 9000 Euro pro Praxis für die nächsten fünf Jahre. In Zeiten schwindender Reserven und einem deutlich gestiegenen Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um 3,2 Milliarden Euro von Januar bis September 2021 ist der nächste Streit um die Digitalisierung im Gesundheitssystem und die damit verbundenen Kosten buchstäblich programmiert. (hag@ct.de)

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