c't 9/2021
S. 148
Wissen
Online-Konzerte
Bild: Albert Hulm

Live von der Elbe

Wie die Elbphilharmonie und Hamburger Clubs ihre Konzerte ins Netz streamen

Der Lockdown trifft die Kulturbranche besonders hart. Er macht aber auch erfinderisch: Kleine Clubs und große Konzerthäuser stellen auf Livestreams um und finden neue Wege für den Austausch zwischen Publikum und Künstlern. Das wird die Szene auch nach ­Corona prägen.

Von Christiane Richwien

Abends liegen selbst in Großstädten wie Hamburg die Bühnen und Clubs im Dunkeln. Pianistinnen und Schauspieler haben schon fast vergessen, wie es sich ­anfühlt, mit Kollegen zu proben und vor Publikum aufzutreten. Doch es gibt immer mehr Orte wie die Elbphilharmonie, an denen Licht brennt, weil dort ein Live-­Stream stattfindet. Ebenso versuchen ­kleinere Clubs der Stadt, mit Live-Übertragungen Kontakt zum Publikum zu halten.

Bands wie Derya Yildirim & Grup Simek treten online beispielsweise auf dringeblieben.de auf. Die Plattform der Kölner CodeKarussel UG streamt neben Konzerten auch Lesungen und Theaterstücke. Die Preise liegen meist bei 5 Euro pro Auftritt. Einige sind aber auch kostenlos, bei anderen können die Zuschauer selbst entscheiden, ob sie nur 1 Euro zahlen oder den Künstler und Kulturbetrieb mit bis zu 100 Euro sponsern. Nach der Live-Übertragung stehen die Sendungen in der Mediathek des Veranstalters meist ein paar weitere Monate zum Abruf bereit.

Auf dringeblieben.de laufen Konzerte, Vorlesungen und Theaterstücke auch während des Lockdowns weiter.

Im Bereich der staatlich geförderten Kunst kommen Opernfans kostenlos in den Genuss, wenn sie einen Konzert-­Stream der Hamburger Elbphilharmonie in den Mediatheken der ARD oder bei arte, auf Facebook oder YouTube empfangen. Seit August stellt die Elphi neben kurzen Porträts auch ganze Konzerte online. Rund ein Dutzend solcher Auftritte sind bereits in der Mediathek unter elbphilharmonie.de erschienen.

Das Know-how für solche Live-­Streams müssen sich viele Veranstalter aber noch erarbeiten. Denn in Clubs und Theatern war man bis vor Kurzem überhaupt nicht auf Echtzeitübertragungen eingestellt. Bei ihren ersten Gehversuchen setzten manche Veranstalter lediglich Smartphones und Action-Camcorder ein. Welche Kamera für einen Stream taugt oder wie ein Bild gut ausleuchtet wird, wussten nur wenige Spezialisten, die für eine Konzertaufzeichnung extra gebucht werden mussten.

Live oder Aufzeichnung?

Mats Wollny, Vorstandsmitglied im Clubkombinat Hamburg e.V. berichtet, dass es in den ersten Monaten der Coronakrise schwierig war, angesichts geschlossener Fachgeschäfte und einer hohen Nachfrage die geeignete Technik überhaupt anzuschaffen. Mittlerweile hätten ein paar Clubs dank der städtischen Förderung immerhin 4K-Kameras bestellt. Manche Veranstalter wollten die komplexe Aufgabe einer Echtzeitbearbeitung von Bild und Ton zunächst umgehen. Sie entdeckten den internen Speicher ihres digitalen ­Tonpults neu und zeichneten Bild und Ton erst einmal auf, um sie anschließend zu bearbeiten und eine halbe Stunde später zu senden.

Allerdings wären sie dadurch fast aus der Förderung gefallen, da ihnen die ­finanziellen Mittel ausschließlich für den Live-Stream bewilligt worden waren. Die Hamburger Kulturbehörde erkannte eine um dreißig Minuten verzögerte Ausstrahlung nicht als Live-Stream an. Gefördert werden sollten nämlich Ersatz-Auftrittsmöglichkeiten für geschlossene Live-­Bühnen und keine Musikvideo-Produktionen.

Deshalb gingen kleine Subkultur-­Clubs wie das Stellwerk in Hamburg dazu über, ein paar Kameras mit einem Live-­Videomischer zu verkabeln. Im Computer laufen die Bilder mit dem Stereomix aus dem Mischpult zusammen und werden mit der Open Broadcaster Software (OBS) online geschickt. Die Open-Source-Software ist kostenlos für Windows, macOS und Linux erhältlich und kann eine Show nicht nur live senden, sondern auch aufzeichnen.

Derartige Computerlösungen sind zwar günstig, bergen jedoch Fehlerpotenzial und benötigen geschultes Personal. Andere Live-Bühnen setzen deshalb auf schlankere Systeme. Hersteller bieten dazu inzwischen Videomischer an, die ­direkt einen sendefähigen Stream aus­spucken. So schickt aus einigen Clubs der Blackmagic Design Atem Pro ISO komplette Konzerte ohne PC online. ­Sollte die hauseigene Internetverbindung während des Streams ausfallen, bietet der Hersteller Blackmagic mit dem Webpresenter HD zudem die Möglichkeit, zur Not auch über ein Smartphone weiter zu streamen. Die Kosten für eine solche Kombination liegen bei rund 1400 Euro.

High-Tech-Philharmonie

Die Hamburger Elbphilharmonie spielt derweil in einer anderen Liga. Da die Konzerte zuweilen auch im öffentlich-recht­lichen Fernsehen zu sehen sind, erreichen die Streams das Niveau einer TV-Produktion. Schaut man während eines Streams in den großen Saal, findet man dort bis zu acht Panasonic AW-HE 130 Full-HD-­Kameras. Die lautlos ohne Lüfter arbeitenden Kameras kommen auch mit minderen Lichtverhältnissen klar und werden aus dem Remote-Operator-Raum fern­gesteuert, erläutert der technische Projektleiter Matthias Baumgartner. Über das hauseigene Netzwerk gelangen die Kamerasignale in eine Videomatrix.

In der Regie der Elbphilharmonie laufen die aufbereiteten Bilder der Kameras aus dem Konzertsaal zusammen und werden für den Live-Stream zusammengestellt.
Bild: Christiane Richwien

Die Grundlage der Streaming-Technik bildet das hausinterne redundante 10-Gigabit-Glasfasernetzwerk mit kupferbasierten HD-SDI-Leitungen. Der Vorteil dieses Netzwerks ist seine Flexibilität. Denn je nach Produktion können sowohl die Auftrittspositionen der Künstler als auch Anzahl und Arbeitsort der im Hintergrund Mitwirkenden stark variieren. Bild- und Tonsignale müssen deshalb an vielen Stellen im Haus abgreifbar sein. Eine ­MediorNet-Videomatrix der Firma Riedel stellt die gewünschten Verbindungen über 132 physische Ein- und ebenso viele Ausgänge her. Aus dieser Matrix gehts in einen Graphite-Bildmischer von Ross. Die Streaming-Regie vereinheitlicht das Bildmaterial und steuert über Monitore aus der Ferne, welches Kamerasignal für den ­Stream zurück in die Videomatrix soll.

Die Tonregie sendet das Audiosignal aus dem Saal ebenfalls über das haus­eigene Netzwerk an die Matrix. Nach einem Ausflug durch einen Prozessor zur Optimierung der Lautheit wird der Ton mit dem Bildsignal gekoppelt. Die letzte Station im Haus, die das frisch komponierte Videosignal vor dem Eintritt ins Internet durchläuft, sind vier H.264-Encoder vom Typ AJA Helo. Je einer ist für den Stream zu Facebook (720p25 mit 5 MBit/s) und YouTube (1080p25 mit 6 MBit/s) vorgesehen. Die beiden übrigen Encoder senden redundant, sodass bei Störungen gleich umgeschaltet werden kann.

Auf Streaming-Software und PCs ­verzichtet man so weit wie möglich in der Elbphilharmonie. Denn jede eingesetzte Software berge samt dem Computer zusätzliche Fehlerquellen und Risiken, zum Beispiel Programmabstürze, erklärt Projektleiter Baumgartner. Geht alles gut, ist ein Ton bei einer Live-Übertragung bereits etwa 20 Sekunden, nachdem er im Großen Saal erklingt, auf Facebook zu hören.

Der optimale Ton

Ein sensibles Thema ist die Anpassung der Lautstärke, insbesondere bei der Über­tragung konzertanter Musik. Die Dynamik ist bei Klassikproduktionen in der Regel nämlich deutlich größer als im Pop oder Rock. Lautheitsschwankungen zwischen zarten Flötentönen und donnernden Paukenschlägen müssen deshalb äußerst ­behutsam ausgeglichen werden. Denn je lauter das Signal im Durchschnitt klingt, desto weniger Spielraum bleibt für dynamische Unterschiede.

In der Elbphilharmonie orientiert man sich dazu an den Hörgewohnheiten der Zielgruppen und den eingesetzten Wiedergabegeräten. Während Zuschauer auf Facebook meist ihr Smartphone ­nutzen, sitzen sie bei YouTube eher am heimischen PC oder vor dem Smart-TV mit angeschlossener Stereo-Anlage.

Die Audioprozessoren der Elbphilharmonie gleichen unter anderem die Lautstärke für die Streams auf YouTube und Facebook an.
Bild: Christiane Richwien

Zur Lautheitsanpassung kommt an der Elphi ein TC Loudness Pilot 2XSDI zum Einsatz. In dessen Loudness-Sektion sind Parameter wie Ziel-Level, maximale Reduktion, Freeze Level, Freeze Hold und maximaler Boost einstellbar, angezeigt in LUFS (Loudness Units Full Scale).  Während Aufnahmen in der Philharmonie ­zunächst auf eine durchschnittliche Ziellautstärke von -23 LUFS ausgesteuert ­werden, hebt der Loudness Pilot den Pegel für YouTube um etwa 3 Dezibel auf –20 LUFS an. Bei Facebook ist der aus­gespielte Ton durchschnittlich 2 Dezibel lauter (–18 LUFS), um die generell schwächere Ausgangsleistung von Smartphones etwas auszugleichen. Die lautesten Paukenschläge müssen dafür dann eventuell etwas gestutzt werden, weil keine Pegelspitze über die theoretische Obergrenze von 0 LUFS hinausragen kann.

Doch zurück zur Hamburger Club-Szene: Für einen guten Stream braucht es nicht nur Technik, sondern auch Personal. In manchen Clubs ist der Azubi der Einzige, der sich nicht gänzlich in Kurzarbeit befindet und deshalb Zeit hat, sich in die neue Streaming-Technik reinzufuchsen.

Moderatoren und Regisseure

Für eine professionelle Übertragung reicht das aber nicht. Deshalb beschäftigt der Liveclub Knust, der als erster Hamburger Club gestreamt hat, seit Neustem einen Streaming-Experten. Darüber hinaus ­sollten  Streaming-unerfahrene Künstler im Knust zunächst ein Kameratraining ­absolvieren, bei dem sie lernen, die Intensität ihrer Mimik und Gestik an Close-ups der Kameras anzupassen. Dirk Matzke, Booker des Knust, hat außerdem gute ­Erfahrungen damit gemacht, den ohne Publikum vor Ort auftretenden Bands einen Moderator an die Seite zu stellen. Dieser interagiert mit den Musikern ­zwischen den Stücken und leitet Rück­meldungen vom Online-Publikum aus dem Chat weiter.

Das Hamburger Knust stellt den Bands zusätzliche Moderatoren zur Seite, die mit dem Online-Publikum chatten. Gestreamt wird auf backonstage.tv.
Bild: Photostudio Ottensen, Hamburg

Besonders wichtig ist ein auf Musikvideos spezialisierter Regisseur. Damit er live schnell die richtigen Bilder der Kameras auswählt und Zusatzinformationen einblendet, sollte er die Band und die ­Stücke gut kennen.

Die Elbphilharmonie überlässt dabei nichts dem Zufall: Ein Team aus elf Fachkräften beginnt etwa zehn Wochen vor einer Aufführung mit der Planung. Vierzehn Tage vor dem Stream beginnt die heiße Phase. Spätestens jetzt erfährt die Regie, wo das Orchester sitzt und an welchen Orten im Saal Solisten auftreten. Nun wird unter anderem festgelegt, wo welche Kamera steht, ob sie ferngesteuert oder bemannt eingesetzt wird und welche ­Grafiken oder Bauchbinden eingebunden werden sollen.

Eine klassische Konzertaufnahme hat durchschnittlich 1200 Schnitte. Alle Beteiligten erhalten vom Regisseur ein Schnittbuch genanntes Skript, nach dem sie am Auftrittstag arbeiten. Am Bild-Ingenieursplatz wird das Material aus den Kameras unter anderem mit Blenden und Color Matching angeglichen, sodass alle Bilder einheitlich wirken. Am sogenannten Playout, einem Grafik- und Systemtechnikplatz, werden Texte und Logos eingebunden, Signale aufgezeichnet, geroutet und in die Encoder geschickt. Die Einarbeitung an einem dieser Arbeits­plätze kann schon mal ein Dreivierteljahr ­dauern.

Interaktion mit dem Publikum

Dass sich dieser hohe Aufwand bei der Elbphilharmonie lohnt, zeigen die Zugriffszahlen: Beim Eröffnungs-Stream waren es insgesamt 873.856, bei anderen Konzerten sind es durchschnittlich 80.000. Die Zuschauer kommen aus allen Ecken der Welt und tauschen sich im Chat über die Aufführungen aus. Die Elbphilharmonie beschäftigt in ihrer Social-­Media-Abteilung inzwischen zwei Exper­tinnen, die die Nutzer auf Facebook und YouTube betreuen. Die Zahl der regelmäßig hereinschauenden Abonnenten unterscheidet sich auf den Plattformen deutlich: Bei YouTube sind es 27.500, auf Facebook über 246.000.

Seit August streamt die Elbphilharmonie kostenlos komplette Konzerte vor leeren Rängen über YouTube und Facebook.

Pressesprecher Tom Schulz ist sich aber noch nicht sicher, ob sich aus den Streams der Elbphilharmonie künftig ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Man wolle dies weiter beobachten und freue sich über das große internationale Interesse der Zuschauer.

Die Clubs kochen derweil auf kleinerer, intimerer Flamme: Das Knust begrüßte bei seinen ersten Streams auf dringeblieben.de im Frühjahr 2020 gerade mal 150 Online-­Besucher. Mittlerweile können es bei einem Konzert von Bernd Begemann oder zur ­Silvesterparty an die 1000 Online-Gäste werden. Das Publikum kennt sich oft persönlich und ist in der Punkrockszene aktiv. Wenn eine befreundete Band bei einer Auswärtsprobe erstmalig ihre neuen Songs ­öffentlich spielt, fiebern die Fans online mit.

The Show must go on

Dabei wird es immer wichtiger, dass die Künstler mit ihrem Publikum online interagieren. Beim Format „Back on Stage“ ist der Moderator gleichzeitig im Chat aktiv und trägt Wünsche des Publikums an die Bands heran. Das Publikum bedankt sich mit dem Kauf eines virtuellen Biers oder der Bestellung einer ganzen „Saalrunde“. Die Einnahmen daraus teilt der Club mit den auftretenden Künstlern.

Dirk Matzke vom Knust sieht seine Aufgabe darin, den Stream nicht als Konzert, sondern als Show mit einer guten Portion Storytelling aufzubauen und das Publikum mitzunehmen. Mancher Konzertabend werde zu einer gelungenen ­Comedyshow. Matzke erwägt aktuell die Möglichkeiten eines zusätzlichen Streams auf micdrops.de. Dort können bis zu 50 Teilnehmende gegen ein entsprechendes Eintrittsgeld ihre Stars ganz exklusiv erleben, zum Beispiel vor dem Konzert bei einem Meet and Greet oder nach dem Auftritt bei einer virtuellen After-Show-Party. Matzke sieht das Streamen als eine tolle Erweiterung seines Clubs und freut sich auf die Zeit nach Corona: „Ausverkaufte Konzerte gehören ab jetzt der Vergangenheit an – gibt’s keine Clubtickets mehr, streamen wir einfach!“ (hag@ct.de)

Links zu den Streams: ct.de/yxqm

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