c't 20/2021
S. 118
Wissen
Medizindaten
Bild: Rudolf A. Blaha

Gesunde Daten?

Zum Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen

Eigentlich sollte die schnelle Einführung von elektronischem Patientenausweis und eRezept die Ärzte entlasten und die medizinische Versorgung in Deutschland verbessern. Doch bei der Umsetzung knirscht es gewaltig.

Von Detlef Borchers

Gesundheitsminister Jens Spahn hat dem Gesundheitssystem in der vergangenen Legislaturperiode eine Rosskur verordnet. Sein Ministerium brachte im Stechschritt die elektronische Patientenakte, das E-Rezept sowie die Vernetzung der Praxen und Kliniken auf den Weg. Doch bei Medizinern, Apothekern und anderen „Leistungserbringern“ sind die Neuerungen unbeliebt, denn bei den praktischen Umsetzungen der theoretischen Vorgaben hapert es immer wieder an Details und ambitionierten Fristen.

Zusätzlich ist eine politische Debatte darüber entbrannt, ob Patienten weiterhin aktiv eine elektronische Patientenakte (ePA) beantragen können (Opt-in) oder ob sie diese automatisch erhalten und gegebenenfalls widersprechen müssen (Opt-out). Eine ähnliche Diskussion gibt es um die Weitergabe dieser Daten in die Forschung. Das wirft auch die Frage nach der Datenökonomie auf: Was sind Gesundheitsdaten, wer kann sie nutzen und wem nützen sie?

Begehrlichkeiten

Während der Wahlkampf viel Raum in der medialen Berichterstattung einnimmt, ist ein Kommentar von Dr. Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse, im Handelsblatt beinahe untergegangen. Big Data und die Auswertung großer Datenmengen würden künftig eine wichtige Rolle in der Medizin spielen – auch in der gesetzlichen Krankenversicherung: „Als Krankenkasse sehen wir das Potenzial von Daten für die Gesundheit in unseren Abrechnungsdaten.“

Es sei unbestreitbar, so Baas, dass bereits heute vorliegende Daten für Patienten und das Gesundheitssystem von großem Nutzen sein könnten. Meist dürften diese Daten aber für solche Zwecke nicht ausgewertet werden. „Viel zu oft“ lägen sie zudem erst Monate nach einer Behandlung den Krankenkassen vor. Gäbe es sie in Echtzeit und mit der Freigabe, sie auszuwerten, könnte sofort interveniert und Leben gerettet werden – „wenn es nur zulässig wäre“.

Denkt man Baas’ Aussage weiter, stellt sich die Frage, ob Krankenkassen zukünftig direkt in das Gesundheitssystem eingreifen wollen. Bisher sind sie Versicherungen und keine Akteure im Gesundheitswesen. Vereinfacht gesagt: Mit einer ausgefallenen Plombe geht man zum Zahnarzt; die Kasse bestätigt dem Dentisten über den Stammdatenabgleich, dass die Behandlungskosten gedeckt sind. Krankenkassen bekommen Daten zu Diagnose und Therapie aber erst nach einer Behandlung mitgeteilt, entweder vom Arzt oder Krankenhaus. Die Kommunikation in „Echtzeit“ spielt sich anderswo ab. Ein gar nicht mal so fiktives Beispiel: Ein Hausarzt stellte bei einer Routineuntersuchung ein Vorhofflimmern fest und überwies den Patienten unverzüglich in eine Klinik – ohne eine Reaktion der Krankenkasse abzuwarten. Da der Patient bereits eine ePA samt App auf dem Smartphone besaß, stellte die Krankenkasse automatisch die ICD-Diagnosen von dem Vorfall und der anschließenden Behandlung sowie die zugehörige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) in die Akte.

Das mag erst einmal unspektakulär klingen. In Verbindung mit den Forderungen des Chefs der TK zeigt es aber, weshalb in der im Aufbau befindlichen telematischen Infrastruktur des Gesundheitswesens (TI) auch über die Datenökonomie von Gesundheitsdaten verhandelt wird. Wenn Krankenkassen Zugriff auf ärztliche Befundungen in Echtzeit bekämen, hätten sie eine Lenkungsfunktion von enormer Tragweite in der Hand. Jens Baas beruft sich unter anderem auf ein neues Gutachten des Sachverständigenrates für Gesundheit (SVR), der vom Gesundheitsministerium berufen wird. Auf einem Online-Symposium, auf dem der SVR sein Gutachten vorstellte, leitete die Gesundheitsökonomin Prof. Dr. Beate Jochimsen stellvertretend für das Gremium vom Recht auf Leben und Gesundheit ab, dass Datensparsamkeit nicht mehr allein im Vordergrund stehen dürfe: „Zur Norm der Solidarität mag es gehören, dass ich meine Daten allen heutigen und künftigen Patientinnen und Patienten zur Verfügung stelle.“ Datenschutz, so die Empfehlung des SVR, solle man nicht nur als Abwehrrecht gegen Datenmissbrauch, sondern auch als „Recht auf Datenverarbeitung im Interesse des Einzelnen und aller Patienten und Patientinnen“ verstehen und realisieren.

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