c't 19/2021
S. 182
Story
Oben
Bild: Albert Hulm

Oben

Emotionen können trügen, Messwerte nicht – oder? Ein rätselhafter Spannungsabfall muss irgendeine Ursache haben. Aber manchmal wartet hinter einer technischen Alltagsfrage eine Überraschung, die das gewohnte Leben infrage stellt.

Von Jol Rosenberg

Das grelle Licht und die Hitze trafen sie jedes Mal wie ein Schlag. Danja Wasjalkowa schloss die Tür hinter sich und blieb stehen, die Augen zusammengekniffen. Sie hatte die Sonnenschutzkleidung sorgfältig angelegt: Hut samt Nackenschutz, Brille und Handschuhe. Sie war ausreichend geschützt. Langsam öffnete sie die Augen. Die Treppe vor ihr war von feinem, ockerfarbenem Sand bedeckt und sah aus, als sei sie seit Wochen nicht benutzt worden.

Vorsichtig stieg Danja hinauf und ließ den Blick über die aufgeständerten Solarmodule schweifen. Das war das einzig Gute an der Sonne: dass sie Licht spendete, das hier in elektrischen Strom umgewandelt wurde und so ganz Barnow mit Energie versorgte. So konnten Danja und die anderen Bewohner unten bleiben, wo es sicher war. Danja war unter der Erde geboren worden und dort aufgewachsen, als Kind einer wohlhabenden Familie. Ihre Eltern sahen es nicht gern, dass sie sich eine Arbeit außerhalb des familiären Einflussbereichs gesucht hatte. Eine, die Gänge nach oben erforderte! Aber Danja hatte darauf bestanden. Und auch wenn es gefährlich war, die unterirdische Stadt zu verlassen: Ihr Job war es, diesen Spannungsabfall zu untersuchen – und genau das würde sie tun. Sie war eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen traf und ihren Job ausfüllte, statt sich im Schatten der eigenen Familie zu bewegen. Oder gar auf dem Ererbten auszuruhen.

Unter den Solarmodulen wuchsen fast hüfthohe Pflanzen. Weiter vorn stakste ein feingliedriger Agrobot durch die Pflanzenreihen. Danja hatte sich das alles vorher auf dem Bildschirm angesehen, damit sie wusste, was sie erwartete. Die Analysestation hatte gesagt, der Fehler sei im Quadranten 8H. Es war weit bis dorthin. Sie machte sich auf den Weg durch die Hitze.

* * *

Quadrant 8H sah aus, wie er aussehen sollte. Gerade Reihen mit Solarmodulen, darunter ebenso gerade Reihen mit beschatteten Pflanzen. Dazwischen in regelmäßigen Abständen die Wartungswege. Danja holte die Diagnoseeinheit aus dem Werkzeugkoffer, sorgfältig darauf bedacht, dass die Handschuhe nicht verrutschten, und schloss sie an. Langsam füllte sich das Display mit Messdaten. Danja war davon ausgegangen, dass sich eine Kabelverbindung gelockert hatte. Oder mehrere. Der Spannungsabfall war erheblich. Im schlimmsten Fall war ein ganzes Modul ausgefallen. Dann musste sie es abschrauben, auf einen Zugwagen laden und zur Reparatur mit nach unten nehmen.

Aber laut diesen Daten waren alle Module intakt. Es gab auch keine Anzeichen für Korrosion. Trotzdem lieferte 8H nicht genügend Leistung an den Hauptverteiler. Danja startete einen zweiten Diagnoselauf und ließ den Blick über die Pflanzen schweifen. Sie waren größer als sie, hatten längliche Blätter und dicke Stängel. Da konnte sich Wer-weiß-was drin verstecken. Es gab Tiere hier oben. Auch wenn sie bis auf gelegentliche Vögel nie eines gesehen hatte.

Ein leichter Wind ließ die Blätter rascheln. Ein unangenehmes Geräusch, das Danja einen Schauer über den Rücken jagte. Der Diagnoselauf war fertig und brachte das gleiche Ergebnis wie beim ersten Mal. Die Richtlinien sagten ganz klar, dass nun eine Sichtprüfung dran war. Im schlimmsten Fall musste sie den gesamten Quadranten umrunden.

Danja ging los. Der Schweiß bildete unter ihrem Solarschutzanzug feuchte Flecken. Die Stelle, an der er sich unter dem Hut sammelte, begann zu jucken. Bald würde sie klatschnass geschwitzt sein.

Langsam folgte Danja dem Wartungsweg und ließ den Blick schweifen. An der nächsten Kreuzung bestieg sie eine Leiter und streckte den Kopf aus dem Solarplattenmeer. Danja litt unter Höhenangst, so lange sie denken konnte. Aber auch wenn die Angst sie hier oben schlottern ließ : Was sie sah, war schön. Zu allen Seiten die gleichmäßigen Module und dahinter die grüngraue Landschaft. So weit konnte man unten nirgendwo schauen. Immer stieß der Blick an eine Wand. Hier dagegen war nichts als Weite. Da lohnte es sich, etwas Höhenangst zu überwinden.

An der nächsten Kreuzung entdeckte Danja die erste Unregelmäßigkeit. Sie starrte auf den Weg vor sich. Irgendetwas verursachte in ihr ein ungutes Gefühl; sie versuchte zu erfassen, was es war. Blätter wippten leise raschelnd im Wind. Dann sah sie zurück zu dem unbefestigten Wartungsweg, auf dem sie hierhergekommen war. Weiter vorn wirkte dieser breiter. Heller. Ausgetretener. Danjas Herz klopfte lautstark. Jemand ging hier entlang. Regelmäßig. Hier, wo niemand entlangzugehen hatte. Sie aktivierte ihr MobKomm.

„Was gibt’s?“ Pok klang etwas ungeduldig.

„Ich bin oben.“

„Ich weiß.“

„Hier gibt es eine Unregelmäßigkeit.“

„Deshalb bist du ja oben!“

Danja seufzte. Pok war nie besonders gesprächig. Schon gar nicht, wenn so viel zu tun war wie jetzt. Und Pok machte sehr deutlich, dass Danja keine Schonung erwarten konnte, bloß weil ihre Eltern einflussreich waren. Genau deshalb hatte sie diese Stelle gewählt. Auch wenn sie Pok in Momenten wie diesem für die Sprödheit hasste.

„Hier geht jemand lang“, sagte Danja. „Regelmäßig.“

„Jemand von der Landwirtschaft wahrscheinlich.“ Pok klang gelangweilt. „Mach deine Arbeit. Ich höre von dir, wenn das Problem gelöst ist!“ Die Verbindung wurde getrennt. Danja schloss kurz die Augen. Natürlich musste sie das Problem allein lösen. Dafür war sie da. Und sie würde es lösen! Sie öffnete die Augen wieder und straffte sich.

* * *

Nach ungefähr neunzig Metern fand sie die nächste Unregelmäßigkeit: Ein Pfad bog vom Versorgungsweg ab und verschwand zwischen den Pflanzen. Da sollte kein Pfad sein. Als sie den Quadranten weiter umrundete, fand sie, bis auf einen weiteren Pfad ins Grün, nichts. Keinen Anhaltspunkt für den Grund des rätselhaften Leistungsverlusts. Was hieß: Sie musste da rein. Nachsehen.

Einige Minuten lang stand Danja einfach nur da und atmete. Dann schritt sie langsam in die Pflanzen hinein. Es raschelte, als sie hindurchging. Der Pfad schlängelte sich im Schatten der Konsolen dahin. Als plötzlich jemand vor ihr stand, ließ Danja fast den Werkzeugkoffer fallen. Die andere Person trug einen breitkrempigen Hut mit Nackenschutz, aber keine Sonnenbrille. Ihre sonnenverbrannten Hände ragten ohne Handschuhe aus den langen Ärmeln einer zerschlissenen Jacke.

„Wer sind Sie?“ Danja klang etwas zu furchtlos – gemessen daran, wie sie sich tatsächlich fühlte. Ihre Stimme hatte, wie sie selbst verwundert feststellte, beinahe etwas Aggressives.

„Ich bin Sinta.“

Danja stellte den schweren Koffer ab. Einer Person, die hier oben herumlief, war nicht zu trauen. Ihren Eltern zufolge lebten hier nur Verstoßene – Leute, denen es nicht gelungen war, sich unten zu integrieren. Leute, die man fürchten musste.

„Was machen Sie hier?“

„Ich bin Landwirtin.“

Landwirtin. Pok hatte es normal gefunden, dass die hier oben herumliefen. Danja warf der Fremden einen skeptischen Blick zu. Eine nicht mehr junge Frau mit dunklem Haar, das unter dem Hut hervorlugte. Sie sah eigentlich ganz normal aus. Wenn man von den deutlichen Sonnenschäden der Haut an Gesicht und Händen einmal absah.

„Ich kümmere mich um die Pflanzen“, sagte Sinta und deutete auf Danjas Werkzeugkoffer. „Und Sie kümmern sich um die Solarmodule.“

„Ja.“ Danja richtete sich etwas auf.

„Gibt es ein Problem?“

„Ja“, gab Danja zu. Wer auch immer diese Sinta war, sie kannte sich hier oben aus und konnte vielleicht helfen. Dann konnte Danja endlich wieder hinunter in die Sicherheit. „Ich untersuche einen Spannungsabfall.“

Sinta nickte grimmig. „Sie sind von unten?“

Danja nickte.

„Dachte ich mir schon. Ich weiß, wo Ihr Strom ist.“

„Und wo?“

„Bei mir. Kommen Sie mit!“

Die Frau drehte sich um und stapfte los. Danja zögerte. Verstoßene waren zu allem fähig. Aber Pok hatte die Anwesenheit von Leuten hier oben nicht gejuckt. Es hatte keine Warnung gegeben. Auch wenn Danja keinen Extraschutz erwartete, Warnungen gab es. Aber nur, wenn Gefahr bestand. Pok würde erwarten, dass sie ihren Job tat. Danja ergriff den Koffer und folgte Sinta.

Nach einigen Kurven erreichten sie ein Haus. Fassungslos starrte Danja das Gebäude an, das aussah, als sei es direkt aus dem Boden gewachsen. Eine sandfarbene, geduckt dastehende Konstruktion, mit dicken, milchigen Fensterscheiben und unregelmäßigen, massiv wirkenden Wänden. So, als hätte jemand mit bloßen Händen Klumpen von Erde übereinandergeschichtet. Es sah nicht sehr vertrauenserweckend aus.

„Wohnen Sie hier?“, fragte Danja vorsichtig.

„Ja“, sagte Sinta.

„Und Sie klauen Strom.“

Sinta sah sie geradeheraus an. „Was wissen Sie über die Situation hier draußen?“

Danja zuckte die Achseln. Nicht viel. „Sind Sie verstoßen worden?“

Sinta nickte grimmig, die Hand an der primitiven Klinke ihrer Tür. „Eine verstoßene Diebin, das klingt nicht gerade gut für mich. Aber aus Ihrer Sicht ist es wohl so.“

Sie öffnete die hölzerne Tür und winkte Danja herein. Zögernd folgte Danja ihr. Das Innere des Hauses war winzig. Ein einziger Raum: ein hölzerner Tisch, ein verrostetes Bettgestell an der Wand, ein Schrank und ein … Danja starrte auf das riesige Ding, das mitten im Raum stand und ein tiefes Brummen von sich gab. Ein Tank, gefüllt mit einer trüben Flüssigkeit. Im Dämmerlicht trieb ein dunkler Schemen darin. Danja spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften und ihre Schultern zusammenzogen, während Sinta an ihr vorbeitrat und eine Hand an den Tank legte, vorsichtig, fast liebevoll.

„Was ist das?“ Danjas Stimme klang angespannt.

„Ein Regenerationstank.“ Sinta deutete auf den dunklen Schatten: „Und das ist Parvan.“

Danja stand immer noch neben der Tür. Sie musste gehen. Sofort. Diese Frau führte nichts Gutes im Schilde.

„Was … ist mit ihm?“, stammelte sie stattdessen und stand wie festgewurzelt.

„Er hatte einen Unfall. Eine Kollision mit einem Ernteroboter.“

„Warum bringst du ihn nicht in die Med-Einheit?“

„Welche Med-Einheit?“ Sinta klang abfällig.

Danja hätte es gleich wissen müssen: Die Med-Einheit in Barnow stand nur Städtern zur Verfügung. Verstoßene gehörten nicht zu diesem Kreis.

„Wer ist … war Parvan?“

„Ist“, sagte Sinta fest. „Das hier ist zwar ein vorsintflutlicher Regenerationstank mit einem horrenden Energieverbrauch. Aber er funktioniert.“ Sie hielt kurz inne und starrte Danja grimmig an. „Parvan ist mein Sohn“, sagte sie dann.

Ihr Sohn. Vorsichtig ging Danja einige Schritte nach vorn und sah in die trübe Flüssigkeit. Der Körper darin sah leblos aus. Und groß. Kein Kind mehr. Danjas Finger wanderten an das warme Glas. Sie hatte nie darüber nachgedacht, was mit den Kindern von Verstoßenen passierte. Ihr Blick huschte zu dem grünlich leuchtenden Display, über das lautlos Kurven glitten, die ihr nicht das Geringste sagten. Wenn sie ihren Job richtig machte, musste sie das hier verhindern. Und Parvan würde sterben.

Das Glas vibrierte unter Danjas Händen. Ihr konnte nichts passieren. Fast nichts. Im schlimmsten Fall wurde sie ihren Job los. Ihre Eltern würden ihr sagen, dass sie es gleich gesagt hätten. Und sie würde ihre Wunden lecken, Kraft sammeln und noch einmal losgehen.

„Wie lange wird er brauchen?“

„Mehrere Monate.“

Monate. Danja schloss die Augen. Wenn sie ein Modul als zerstört meldete, dauerte es lange, bis es repariert war. Da konnten leicht Monate vergehen. Bis dahin wurde die geringere Leistungsabgabe toleriert. Sie öffnete die Augen und sah Sinta an: die wettergegerbte Haut, die kräftigen Arme, die schorfigen Sonnenbrandstellen. Diese Frau arbeitete. Sie war keine Schmarotzerin.

„Warum bist du verstoßen worden?“

Sinta schnaubte. „Nicht ich. Meine Eltern. Irgendein Streit, lange vor meiner Zeit.“

Danja schüttelte den Kopf. Es war nicht recht, dass Kinder die Fehler ihrer Eltern ausbadeten. Auch wenn es üblich war.

„Ich brauche ein defektes Modul“, sagte sie, „das ich nach unten bringen kann.“ Wenn diese Frau den Tank besorgt hatte, konnte sie vielleicht auch ein Schrottmodul besorgen, das Danja als defekt melden konnte. „Kannst du eins besorgen?“

Sinta erwiderte ihren Blick, dann wanderten ihre Augenbrauen nach oben. „Also hilfst du uns?“

Danja biss sich auf die Lippe. Sie wusste, dass es besser war, den Diebstahl zu melden und die Wachbots ihre Aufgabe tun zu lassen. Aber sie konnte nicht. Parvan würde sterben und Sinta … – nein. Danja musste es klug anstellen, um damit durchzukommen, sonst hatte sie nicht nur Pok, sondern auch ihre Eltern an den Hacken. Aber es war möglich. Das hier war ihr Leben. Und ihre Entscheidung! Das war es, warum sie hier war. Danja nickte.

„Das lässt sich sicher machen“, sagte Sinta. „Kaputte Dinge haben wir hier oben mehr als genug.“ (psz@ct.de)

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