c't 14/2021
S. 38
Aktuell
Brille für virtuelle Meetings

Raus aus der Zoom-Hölle

Deutsches Start-up entwickelt System für virtuelle Meetings

Lebensechte Meetings mit einer schlanken, leichten Datenbrille statt am PC: Mit diesem Konzept tritt ein Karlsruher Start-up gegen Giganten wie Microsoft an – und hat bereits einen pro­minenten Investor überzeugt. c’­t durfte einen Prototyp aus­probieren.

Von Christian Wölbert

Virtuelle Meetings, die den Eindruck vermitteln, man befinde sich zusammen in einem Raum: Das gilt spätestens seit Corona als „Next Big Thing“ der Technikbranche. Fast alle großen Player – Microsoft, Facebook, Google, vermutlich auch Apple – arbeiten mit Milliarden­einsatz an Systemen, die anstrengende, unpersönliche Videokonferenzen ablösen.

Genau das hat auch Gixel vor, ein gerade mal drei Köpfe zählendes Start-up aus Karlsruhe. Ein chancenloses Unterfangen angesichts der Konkurrenz? Vielleicht. Doch die technischen Merkmale des Gixel-­Systems lassen aufhorchen. „Wir haben die leichteste Brille der Welt und das größte Sichtfeld der Welt“, verspricht Gixel-Gründer Miro Taphanel im Gespräch mit c’t.

Künftig will Gixel mit einer schmalen LED-Zeile an der Decke auskommen – zurzeit ist noch ein großer Fernseher nötig.
Bild: Gixel

Gixels aktueller Prototyp unterscheidet sich grundlegend von Virtual- und Augmented-Reality-Brillen, mit denen ebenfalls Meetings im virtuellen Raum möglich sind. An Konferenzen mit dem Gixel-System können derzeit maximal drei Personen teilnehmen, jede davon in einem Raum mit fest installierten Komponenten: Auf einem Schreibtisch stehen zwei Kameras, die die Person aus den beiden Perspektiven der anderen filmen. Unter der Decke hängt zusätzlich ein 65-Zoll-Monitor.

Die zentrale Komponente ist aber die Brille, die alle Teilnehmenden aufsetzen, um ihre Gesprächspartner sehen zu können: Sie besteht aus einem ganz normalen Brillengestell, an dem zusätzlich zu Brillengläsern zwei schräg gestellte, halbtransparente Spiegel befestigt sind, die etwa drei Zentimeter nach vorne ragen. Diese sogenannten Strahlteiler reflektieren das Bild des oben montierten Fernsehers ins Auge des Trägers. Außerdem befindet sich ein Trackingsensor an der Brille, mit dem das System die Kopfbewegungen des Nutzers verfolgt, sodass es virtuelle Inhalte so darstellen kann, dass sie im Raum stabil bleiben. Die Software läuft auf einem PC, der unter dem Schreibtisch steht.

Externes Display

Der aktuelle Prototyp der etwa 70 Gramm leichten Gixel-Brille: Am Bügel ist die Hardware für das Tracking-System befestigt.
Bild: Gixel

Anders als bei VR- und AR-Brillen steckt das Display bei Gixel also nicht in der Brille, sondern hängt an der Decke. Diese grundlegende Entscheidung bringt eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich, zum Beispiel das geringe Gewicht: Der aktuelle Prototyp der Brille wiegt nur 70 Gramm. Damit ist sie zwar spürbar schwerer als eine normale optische Brille, aber viel leichter als AR- und VR-Brillen. Microsofts HoloLens 2 zum Beispiel fühlt sich mit ihren 560 Gramm eher wie ein Helm an.

Gleichzeitig schlägt die Gixel-Brille die HoloLens 2 und alle anderen erhält­lichen AR-Brillen bei der Größe des Sichtfeldes. Die Karlsruher versprechen 100 Grad in der Horizontalen und 45 Grad in der Vertikalen – das wäre erheblich größer als bei der HoloLens 2 und der Magic Leap One. Nur VR-Brillen bieten bislang ähnlich viel. Das von den menschlichen Augen insgesamt abgedeckte Sichtfeld ist mit einer horizontalen Ausdehnung von mehr als 200 Grad allerdings noch viel größer.

Das Sichtfeld ist wichtig für den Immersionseffekt, also für das Gefühl, die virtuellen Inhalte befänden sich tatsächlich im Raum. Ist es zu klein, werden Bildinhalte an den Rändern „abgeschnitten“, wenn man den Kopf dreht oder sich auf sie zubewegt.

Weil die Gixel-Brille so dezent ist, bleibt außerdem die Mimik des Trägers sichtbar, und man kann sich auch im virtuellen Raum gegenseitig in die Augen schauen. Probleme mit Abwärme, Stromversorgung und vergleichsweise lang­samen Mobil-Prozessoren gibt es auch nicht. „Wir können das ganze technische Gerümpel extern lösen“, sagt der Informatiker und Maschinenbau-Ingenieur Taphanel.

Die Auslagerung bringt auch Nachteile mit sich: Wegen des Fernsehers an der Decke ist der aktuelle Prototyp nicht mobil. Firmen müssten die Technik zum Beispiel in einem Konferenzraum oder im Homeoffice ihrer Mitarbeiter fest installieren. Während Konferenzen muss der Raum zudem momentan abgedunkelt sein.

Greifbare Nähe

Doch wie fühlt sich das System in der Praxis an? c’t konnte den aktuellen Prototyp in Karlsruhe ausprobieren und Taphanels Mitgründer im virtuellen Raum „treffen“, den Optikspezialisten Ding Luo und den Softwareentwickler Felix Nienstedt.

Dabei musste man sich an das Gewicht der – obwohl vergleichsweise leichten – Brille auf der Nase erst gewöhnen, aber dann fühlte sich das Gespräch viel natürlicher an als jede klassische Videokonferenz: Die beiden Gesprächspartner waren nicht in einem Programmfenster in einem Monitor gefangen, sie „schwebten“ stattdessen in dem dunklen Raum – und wirkten dadurch förmlich greifbar.

Das Sichtfeld war groß genug, um beide Gesprächspartner gleichzeitig im Blick zu behalten, ohne dass ihre Oberkörper abgeschnitten wurden. Alle konnten sich gegenseitig in die Augen schauen, einander den Kopf zudrehen und sich auch wieder abwenden, um den jeweils anderen anzuschauen. So wusste man stets intuitiv, wer wann wen etwas fragen wollte – wie im echten Leben, aber bei Zoom & Co. undenkbar.

Spürbar war auch, dass es sich noch um einen experimentellen Prototypen handelte. Nach einer Weile schlichen sich Latenzen bei der Sprachübertragung ein. Der Fernseher zeigte zwar 4K-Auflösung an, die einzelnen Kamerastreams waren jedoch auf VGA begrenzt. Laut Taphanel gibt es schon konkrete Pläne, wie diese Probleme gelöst werden können. Dank GPU-Beschleunigung werde man jeden Gesprächspartner demnächst in Full HD darstellen können.

Außerdem zeigt die Gixel-Software Inhalte bislang nur zweidimensional an, nicht in 3D – was in der Demo kaum störte. Taphanel zufolge haben auch andere Tester den 3D-Effekt nicht vermisst: „Der Mehrwert für die Kommunikation ist nicht hoch.“ Mittelfristig wolle Gixel aber 3D unterstützen. Mit Stereokameras sei das bereits jetzt möglich, allerdings seien momentan die Einbußen bei der Helligkeit noch zu groß.

Ein weiteres Entwicklungsziel besteht darin, den großen Fernseher durch eine schlanke LED-Zeile zu ersetzen. Dafür muss Gixel einen MEMS-Spiegel in die Brille integrieren, ein Bauteil, das zum Beispiel auch die HoloLens nutzt. Die elektronisch gesteuerten Mikrospiegel verwandeln eine Pixelzeile wieder in ein flächiges Bild. Auch die Brille soll noch kompakter werden. Wie das genau gelingen soll, will Taphanel aus Wettbewerbsgründen nicht sagen.

Erlauchter Start-up-Kreis

Gixel-Gründer Miro Taphanel zeigt dem aktuellen Prototypen seiner Brille, ohne Bügel und Trackingsensor.
Bild: Gixel

Auch zur Frage, wann ein erstes Gixel-­Produkt auf den Markt kommen könnte, äußert Gixel sich noch nicht. Allerdings hat das Start-up bereits einen prominenten, finanzstarken Investor gewonnen: die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SprinD), die im Auftrag der Bundesregierung bis 2029 insgesamt rund 1 Milliarde Euro Risikokapital verteilen soll. Gixel gehört zum erlauchten Kreis der bislang sieben von SprinD bekanntgegebenen Förderprojekte.

Man unterstütze Gixel mit „Geld und Netzwerk und klugen Leuten“, sagt SprinD-­Direktor Rafael Laguna de la Vera im Gespräch mit c’t. Wie viel Geld am Ende benötigt werde, stehe noch nicht fest. Die Gixel-Technik habe aber das Potenzial, „das Arbeitsleben nachhaltig zu verändern und uns aus der Zoom-Hölle in echte Telepräsenz zu holen“. (cwo@ct.de)

Kommentieren