Kommentar: Massenexodus bei Grindr – von den (Un-)Schönheiten des Homeoffice

Wenn Mitarbeiter wegen verweigertem Homeoffice kündigen, ist es ihnen ernst. Doch wer hat da wen in der Hand, fragt sich unser Redakteur Tilman Wittenhorst.

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(Bild: Pheelings media / Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Bei der Firma hinter der Dating-App Grindr herrscht derzeit verkehrte Arbeits-Welt: Die Chefs wollten mit einer für sie lästigen Pandemie-Spätfolge aufräumen und riefen ihre Angestellten zurück in die Büros, wenigstens für zwei Tage pro Woche. Doch die Mitarbeiter geben sich bockig und wollen auf ihr Privileg nicht verzichten, das ihnen ans Herz gewachsen ist und in ihrem ohnehin schon stressigen Alltag einige Entlastung bietet. Sie stimmten, ohne dass sie eine Wahl anberaumt oder eine Gewerkschaft zum Ungehorsam aufgerufen hätte, ziemlich kollektiv mit den Füßen ab: Fast die Hälfte von ihnen kündigt. Daraufhin ergießt sich viel Häme über das 'unfähige' Management, das den Laden nicht im Griff hat und die Vorlieben der Leute missachtet. Und die Mitarbeiter erhalten Lob und Zuspruch, weil sie es als clevere Arbeitnehmer 'ihrem' Unternehmen mal so richtig gezeigt und die eigenen Lebens- und Arbeitsumstände zur Abwechslung in die eigenen Hände genommen haben. Nur: Was verrät diese Ausnahme eigentlich über den Normalzustand?

An der schönen Vorstellung vom selbstbestimmten Arbeitnehmer ist schon etwas dran, immerhin besteht auf dem Arbeitsmarkt Wahlfreiheit und wer will, ergreift die Chance, sich anderswo in Dienst zu begeben (sofern man eine Chance erhält und ansonsten die einkommenslose Zeit überbrücken kann). Einige der künftigen Ex-Grindr-Mitarbeiter haben das vielleicht vor, andere wollen womöglich die Kündigung lediglich als Druckmittel benutzen, um zu besseren Bedingungen gleich wieder eingestellt zu werden. Immerhin gab es bei Grindr wohl einiges zu meckern, war die Belegschaft doch dabei, einen Betriebsrat zu gründen.

Man sollte sich nichts vormachen: Die Aktion ist keine gemeinsame Tat der Belegschaft als Einheit gleichermaßen Betroffener, die ein kollektives Ziel verfolgen und dafür ein Druckmittel (vorübergehende Verweigerung ihrer Dienstbarkeit etwa) in Anschlag bringen würde. Gefrustete Einzelne haben hingeworfen, mit vollem persönlichem Risiko. Sie haben individuell abgewogen, was der Job ihnen mit weniger Homeoffice noch 'bringt', und kalkulieren mit einem Wechsel. Nur: Wem bringt Homeoffice eigentlich etwas, und was?

Firmen behandeln eigenmächtige Kündigungen (im Regelfall vereinzelt, nur selten wie hier massenhaft) doppelt – und anders, als es im trotzigen Mitarbeiter-Ideal von der eigenen Unverzichtbarkeit vorkommt: einerseits zwar als eine unvorhergesehene Störung der Betriebsabläufe, die mit vermehrtem Druck auf die Mitarbeiter beantwortet wird, bloß ja das Geschäft aufrechtzuerhalten; andererseits aber auch als eine willkommene Entlastung des Budgets (denn den Lebensunterhalt ihrer Mitarbeiter kalkulieren Firmen als Kosten) sowie einen Anlass, die liegengebliebene Arbeit auf die verbliebenen Mitarbeiter zu verteilen (gewissermaßen eine Entlassungswelle 'außer der Reihe'). Werden wirklich noch Leute gebraucht, stellt man die halt zu höherem Gehalt ein – Hauptsache, das Betriebsziel bleibt im Blick, denn Stillstand oder auch nur Wachstum unter Plan wäre in der Konkurrenz mit anderen Firmen ein vorweggenommenes Todesurteil. Die gestiegenen Kosten holt man mit gesteigerter Produktivität wieder rein.

Diese 'Abstimmung mit den Füßen' durch die Grindr-Leute ist also keine Machtdemonstration und auch keine Maßnahme 'auf Augenhöhe' mit dem Arbeitgeber. Die 'abhängig Beschäftigten' heißen zu Recht so: Sie sind das Betriebsmittel der Firmen, die sie anstellen (und als solches werden sie von der Politik betreut und mit Rechten ausgestattet). Ironischerweise ist das Thema Homeoffice geeignet, diesen Gegensatz zwischen den ungleichen 'Partnern' zu verschleiern.

Es stimmt ja: Homeoffice ist ein Stück selbstbestimmtes Arbeiten und Sich-Einteilen zwischen Job, Familie und Freizeit. Die Liste der 'Vorteile', die Arbeitnehmer im Homeoffice für sich sehen, ist oft genug verbreitet worden. In ihrem Dauer-Dilemma zwischen Zeit und Geld für ihr Leben, das doch nicht nur in Arbeit bestehen soll, holt das Homeoffice ein Stück Zeit heraus – das leidige Pendeln etwa entfällt und die häuslichen und familiären Notwendigkeiten lassen sich besser bewältigen.

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Was dabei untergeht: Auch die Firma hat etwas davon. Zwar verlieren die Chefs ein Stück Kontrolle über ihre Untergebenen, doch von den Anforderungen an sie wird nichts zurückgenommen. Im Gegenteil, die Grenze zwischen 'Arbeiten und Leben' löst sich gerade durch mobiles Arbeiten zusehends auf. Das bietet Gelegenheit für immer mehr Aufgaben, die in immer mehr Nischen aufploppen. Mit dem Laptop im Wohnzimmer und dem Diensthandy auf dem Nachttisch lassen Arbeitnehmer den Taktgeber aus dem Unternehmen mitten in ihr Privatleben hinein. Last, but not least: Homeoffice vergrößert auch die Zahl der Konkurrenten um eine freie Stelle, entfällt doch die Ortsbindung – ein geeignetes Mittel, Forderungen von Bewerbern oder Mitarbeitern abzuweisen.

Ja, die Arbeitnehmer mögen zufriedener sein im Homeoffice. Doch Firmen vergeben sich wirklich nichts, wenn sie an dieser Stelle mal ein Zugeständnis machen (meistens dann doch nur als 'hybrides' Arbeiten mit der Erlaubnis, 1 bis x Tage im Homeoffice zu verbringen). Von ihren Anforderungen und Zumutungen nehmen sie deshalb ja nichts zurück. Und die lieben Mitarbeiter beantworten das leider mit dem unbedingten Willen, mit diesen Zumutungen klarkommen zu wollen.

(tiw)