Kommentar: Eine Milliarde unsichere Webseiten – sind irreführende Werbung

In der Werbung aufgebauschte Risiken dienen eher dem Verkauf von Sicherheitsprodukten als der Sicherheit selbst. Im Gegenteil, für diese sind sie oft schädlich.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 66 Kommentare lesen
Informational,Digital,Detox.,Fake,News.,A,Girl,In,Stress,And

(Bild: Shyntartanya/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Duschen Sie gerne? – Das könnte ein Fehler sein, denn beim Duschen passieren in Deutschland jährlich 140.000 Unfälle. Ganz schön viel! Kaufen Sie sich eine Duschmatte!! – Oder? Zahlen wie diese schockieren uns, sie sorgen für Unsicherheit und persönliche Betroffenheit, denn jeder duscht. Da sich Zahlen dieser Größenordnung gerne in der Werbung finden, liegt die angebotene Lösung oft in einem Produkt, hier konkret einem Sicherheitsprodukt, einer Duschmatte. Werbetreibende für Sicherheitsprodukte nutzen diese emotionale Verkettung bewusst, wie Martin Sauerland, Jarek Krajewski und Sonja Gaukel in ihrem Artikel "Risiko Risikokommunikation" (Mitteilungen des RVW 3/15) an vielen Fällen zeigen. Fünfzehn Prozent aller TV-Werbespots arbeiten beispielsweise mit Furchtapellen, die zu "Gefahren abwendendem Verhalten motivieren", ein sicheres Auto, eine sichere Versicherung.

Ein Kommentar von Wolf Hosbach

Wolf Hosbach ist Redakteur bei der iX. Sein Themengebiet ist die Softwareentwicklung.

Im IT-Bereich sieht es nicht anders aus. Anfang November warnt die OpenJS Foundation vor einem Sicherheitsrisiko "in Three-Quarters of a Billion Websites", zu Deutsch in einem Dreiviertel einer Milliarde Webseiten, eine großkotzige Formulierung für 750 Millionen. Die Organisation pflegt gängige JavaScript-Anwendungen wie Node.js oder jQuery und wird von Google, IBM und Microsoft getragen. In der Warnung bemängelt sie lautstark, dass das beliebte und tatsächlich milliardenfach im Web verbreitete jQuery oft nicht auf dem neuesten Stand ist und so eine potenzielle Gefahr für Websurfer und Webadmins darstellt. Die Lösung liegt in einem neuen Free Healthy Web Checkup Tool der Foundation.

Ein anderes Beispiel: Die Techniker Krankenkasse warnt vor "etwa 100 Bakterienarten auf dem Screen" eines durchschnittlichen Smartphones: Gerade zur Erkältungszeit sei es wichtig, "das Handy-Display regelmäßig zu säubern". Unterhalb des Displays, im Inneren des Smartphones hingegen lauern 60.000 Viren in Form schädlicher Apps, die Bitdefender unlängst entdeckt haben will. In allen Fällen wirken diese Zahlen an sich seriös und symbolisieren Wissenschaftlichkeit.

Mit Alarmismus dieser Art riskieren die Sicherheitshersteller letztendlich, dass die Empfängerinnen und Empfänger der Botschaft vor den wirklichen Gefahren abstumpfen und diese nicht mehr wahrnehmen. Auch das ist ein bekannter Effekt in der Werbebranche, der immer höhere Dosen an Krawall erfordert, um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kundinnen und Kunden noch zu erringen. In den Presseverlautbarungen tauchen immer schrecklichere Zahlen auf, die viele Medien gerne aufgreifen, weil sie den Werbeeffekt der Übertreibung ebenso kennen und für Clickbaits und Lesergenerierung nutzen. Die eigentlichen, ernst zu nehmenden Risiken gehen dabei unter, sodass aus Sicherheit Unsicherheit entsteht.

Das soll nicht heißen, dass es im Internet nicht ein eklatant hohes Bedrohungspotenzial gäbe. – Das ist de facto der Fall. – Oft hilft es aber, wenn die Empfängerinnen und Empfänger den Verstand einschalten, nachdem sie den ersten Werbeschock verdaut haben. Bleiben Sie cool.

Martin Sauerland und seine Mitautorinnen bringen ein Beispiel: Wenn 50 Millionen Deutsche jeden Tag duschen, kommt das auf 18,3 Milliarden nationale Duschvorgänge im Jahr. Das heißt, bei 140.000 Unglücken ist jeder 130.000ste Duschvorgang unfallgefährdet. Das können Sie getrost abwarten (wobei Ihr Risiko im Alter steigt!). Die hundert Bakterien auf Ihrem Smartphone sind ohnehin Ihre eigenen, und die 60.000 Viren im Inneren des Geräts können Sie vermeiden, indem Sie sie einfach draußen lassen: Prüfen Sie die Reputation von Apps, bevor Sie sie installieren.

Nehmen Sie die Gefahren im Internet ernst, aber lassen Sie sich nicht von jeder eindrucksvollen Nachricht beeindrucken. Machen Sie sich selbst zum Experten und informieren sich bei verlässlichen Quellen wie heise.de oder der iX, dann verstehen Sie schnell, dass die von der OpenJS Foundation ausgerufene Milliardenlücke im Web schon sehr abstrakt ist und der Herausgeber in seiner Warnung keine konkrete Gefahr benennen kann.

Bei diesem Kommentar handelt es sich um das Editorial der neuen iX 12/2023, die jetzt im heise Shop und am Kiosk erhältlich ist.

(who)