Marker im Blut geben Hinweise zur Behandlung von Long Covid

Läuft ein oft vergessener Arm des Immunsystems aus dem Ruder, könnte das Long Covid auslösen. Helfen Medikamente, die es schon gegen die Störung gibt?​

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Eien Frau greift sich an die Stirn

(Bild: cira.ca)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Cassandra Willyard
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Für viele Menschen ist Covid-19 eine Krankheit, die von Zeit zu Zeit durch ihr Leben braust, wenn die Fallzahlen mal wieder hochschnellen. Für Millionen andere Menschen jedoch ist die Erkrankung der Beginn einer chronischen und nicht selten erschöpfenden Krankheit, die über Monate oder sogar Jahre anhält.

Was unterscheidet Menschen, die an diesen zusammenfassend Long Covid genannten Folgen der Infektion leiden, von all denen, die wieder gesund werden? Wie Schweizer Forscher nun im Fachjournal "Science" schreiben, ist ein oft übersehener Teil des Immunsystems bei den lange Erkrankten ungewöhnlich aktiv.

Das Team um den Immunologen Onur Boyman von der Universität Zürich hatte die Proteinkonzentrationen in Blutproben von drei Patientengruppen miteinander verglichen: Menschen, die noch nie an Covid erkrankt waren, Patienten, die sich von Covid erholt hatten, und Patienten, die an Long Covid litten. "Wir wollten verstehen, was Long Covid antreibt und was Long Covid aktiv hält", sagt Boyman.

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Menschen mit Long Covid Veränderungen in einer Reihe von Proteinen aufweisen, die am sogenannten Komplementsystem beteiligt sind: Das hilft dem Immunsystem, Mikroben zu zerstören und Zelltrümmer zu beseitigen. Die Ergebnisse bieten einen neuen Weg für Behandlungen, indem sie Ärzten helfen, die am besten geeigneten Personen für die Erprobung bestimmter Medikamente auszuwählen. "Es gibt keine wirklich wirksamen Therapien", sagt Aran Singanayagam, ein Spezialist für Atemwegsmedizin, der Lungeninfektionen am Imperial College London untersucht. "Wir sind also ziemlich verzweifelt, denn es ist ein großes Problem."

Die Schweizer Forscher untersuchten zunächst die Konzentrationen von mehr als 6.500 Proteinen im Blut von 113 Probanden, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren, sowie von 39 Personen, die sich noch nie infiziert hatten. Sechs Monate später entnahmen sie erneut Blutproben von allen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich 73 Infizierte wieder erholt, während 40 Long Covid entwickelt hatten. Viele der Proteine, die bei den Long-Covid-Patienten erhöht waren, waren auch bei den Menschen erhöht, die sich von schweren Covid-19-Verläufen erholt hatten. Es gab allerdings Marker, die nur in bei Long Covid auftraten und sie wiesen auf eine abnorme Aktivierung des Komplementsystems hin.

Was aber ist das Komplementsystem? "Als Nicht-Immunologen hören wir nie davon", sagt Boyman. Dabei spielt es eine sehr wichtige Rolle bei der Abwehr von Mikroorganismen. Das Komplementsystem besteht aus mehr als 30 Proteinen, die von der Leber produziert werden, anschließend durch den Blutkreislauf wandern und als Immunüberwachungssystem fungieren.

Die Aktivierung des Komplementsystems setzt eine Reaktionskaskade in Gang, die Immunzellen an den Ort einer Infektion bringt, Krankheitserreger zur Zerstörung markiert oder sogar Mikroben zerstört, indem es Löcher in sie reißt. Das System heißt Komplementsystem, weil es die Aktivität von Antikörpern ergänzt. Wenn es jedoch aus dem Ruder läuft, kann es weit verbreitete Entzündungen verursachen und Zellen sowie Blutgefäße schädigen.

Als die Forscher die abnorme Aktivierung des Komplementsystems sahen, "sagten wir plötzlich: 'Oh, das ergibt so viel Sinn'", erzählt Boyman. "Das Komplementsystem ist so zentral, dass es nicht nur mit dem Immunsystem, sondern auch mit dem Blutgerinnungssystem kommuniziert – mit den Endothelzellen, mit den Blutplättchen, mit den roten Blutkörperchen und mit allen Organen." Das könnte erklären, warum einige Forscher bei Menschen mit der Krankheit winzige Blutgerinnsel gefunden haben.

Warum das Komplementsystem nach einer Covid-Infektion aus dem Gleichgewicht gerät, ist unklar. "Wenn man eine solche Komplementaktivierung sieht, deutet das für mich auf eine immer noch anhaltende Infektion hin", sagt Timothy Henrich, Immunologe an der University of California in San Francisco. Diese Virusreste könnten das Komplementsystem aktiv halten. Es ist aber auch möglich, dass verbleibende Gewebeschäden das System in Gang halten. Und vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. "Das grundsätzliche Problem, das wir bei der Erforschung von Langzeitviren derzeit haben, ist, dass wir viele Assoziationen haben, aber nicht viele bewiesene Ursachen", sagt Henrich.

Die Schweizer Publikation ist nicht die einzige Arbeit, die auf eine Fehlregulierung des Komplementsystems als Merkmal von Long Covid hinweist. Im vergangenen Oktober veröffentlichten auch Forschende um den Immunologen Paul Morgan von der Cardiff University School of Medicine eine Studie über Long-Covid-Patienten mit abnormen Komplementproteinwerten. Die Arbeit ist ein Vorabdruck und hat den wissenschaftlichen Gutachterprozess noch nicht durchlaufen.

Morgans Gruppe hatte die Patienten zwar nicht über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet, von der akuten Covid-19-Erkrankung bis hin zur Entwicklung von Long Covid. Doch wie Boymans Team identifizierte sie eine Reihe von Markern, die für Long Covid prädiktiv zu sein scheinen, auch wenn es nicht dieselben Marker sind.

Singanayagam, der Spezialist für Atemwegsmedizin vom Imperial College London, ist skeptisch, dass einer dieser Marker eine endgültige Diagnose stellen kann. Wenn das Komplementsystem allerdings tatsächlich für einige der Long-Covid-Symptome verantwortlich ist, könnte das eine Lösung ermöglichen. Unternehmen verfügen bereits über Medikamente, die die Aktivierung des Systems blockieren. Sie sind für die Behandlung einiger seltener genetischer und Autoimmunkrankheiten zugelassen.

Einige dieser Therapien wurden bereits an Menschen mit schweren Covid-Verläufen getestet – bisher mit gemischten Ergebnissen. Das könnte jedoch daran liegen, dass die Forscher nicht in der Lage waren, nur Menschen mit einer Komplementstörung in ihre Studie einzuschließen, sagt Morgan.

Hier kommen nun die Marker ins Spiel. Unternehmen, die eine Studie mit diesen Long-Covid-Therapien durchführen wollen, könnten mithilfe der Marker Probanden finden, deren Komplementsystem fehlreguliert ist. "Die Behandlung mit Anti-Komplement-Medikamenten könnte tatsächlich zum ersten Mal eine wirksame Therapie für Long Covid ermöglichen", sagt Morgan. Sein Team hat bereits Gespräche mit Unternehmen aufgenommen, die solche Therapien entwickelt haben.

Aber selbst wenn diese Medikamente funktionieren sollten, wird das wahrscheinlich nicht bei allen Betroffenen der Fall sein. Long Covid ist "eine so heterogene Ansammlung von Zuständen", sagt Singanayagam. "Brain fog, Müdigkeit, Schmerzen in der Brust – und jedes dieser Symptome ist bei verschiedenen Patienten unterschiedlich stark ausgeprägt". In Morgans Studie wies nur etwa ein Drittel bis die Hälfte der Long-Covid-Patienten eine klare und offensichtliche Komplementdysregulation auf.

Laut Henrich löst die Studie trotz ihrer wichtigen Erkenntnisse noch lange nicht das gesamte Rätsel der Ursachen von Long Covid. "Es ist ein Puzzle mit 1.000 Teilen, und sie haben eine Kante gefunden", sagt er. "Das ist ein guter Anfang, aber es ist nicht das ganze Puzzle."

(jle)