Gehirnerkrankungen verstehen: Wie Ratten mit menschlichen Gehirnzellen helfen

Wenn im Labor gezüchtete Klumpen menschlicher Neuronen in neugeborene Ratten transplantiert werden, wachsen sie mit den Tieren. Ist das ethisch vertretbar?

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Gehirnscan einer neugeborenen Ratte: Die hellgrüne Partie ist das menschliche Hirnorganoid.

(Bild: Pasca lab/Stanford Medicine)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
Inhaltsverzeichnis

Es klingt wie Science Fiction, doch es ist real: Forschern ist es gelungen, menschliche Neuronen in die Gehirne von Ratten zu implantieren und sie dort weiterwachsen zu lassen. Sie stellen dort auch Nervenverbindungen zu regulären Gehirnzellen her und beeinflussen das Verhalten der Tiere.

In der Zeitschrift "Nature" veröffentlichten Studie zeigt das Team, wie im Labor gezüchtete Klumpen menschlicher Gehirnzellen in die Gehirne neugeborener Ratten transplantiert werden können. Sie wuchsen weiter und integrierten sich in die eigenen neuronalen "Schaltkreise" der Nager, so dass sie schließlich etwa ein Sechstel ihres Gehirns ausmachten. Die spektakuläre Technik könnte verwendet werden, um mehr über menschliche neuropsychiatrische Störungen zu erfahren, so das Wissenschaftlerteam um Stanford-Verhaltenswissenschaftler Sergiu P. Pasca.

"Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Verständnis und zur Behandlung von Gehirnerkrankungen", kommentiert Julian Savulescu, Bioethiker an der National University of Singapore, der nicht an der Studie beteiligt war. Aber die Entwicklung werfe eben auch massive ethische Fragen auf, sagt er, vor allem in Bezug darauf, was es bedeutet, Tiere zu "vermenschlichen".

Sergiu Pasca von der Universität Stanford arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt mit neuronalen Organoiden – kleinen Klumpen von Neuronen, die in einer Petrischale gezüchtet werden und bestimmten Gehirnregionen ähneln. Diese Organoide werden häufig aus menschlichen Hautzellen hergestellt, die zunächst in Stammzellen umgewandelt werden müssen. Die Stammzellen können dann im Labor unter den richtigen Bedingungen zur Bildung von Neuronen angeregt werden. Anhand der so entstandenen Organoide lässt sich untersuchen, wie Gehirnzellen elektrische Signale "abfeuern" und untereinander kommunizieren – und wie sie bei bestimmten Störungen nicht mehr richtig funktionieren.

Doch ein solcher Zellhaufen im Labor kann nicht viel aussagen. Im Grunde genommen bilden diese Zellen nicht wirklich das ab, was in unseren Gehirnen vor sich geht – deshalb vermeiden Pasca und viele andere auf diesem Forschungsgebiet auch Begriffe wie "Mini-Gehirn". Die organoiden Zellen können nicht die gleichen komplexen Verbindungen wie normale Hirnzellen eingehen. Sie arbeiten auch nicht elektrisch auf dieselbe Weise. Und sie sind auch nicht so groß ausgebildet wie die Zellen in unseren Gehirnen. "Selbst wenn wir menschliche Neuronen für Hunderte von Tagen aufbewahrt haben, mussten wir feststellen, dass menschliche Neuronen sich nicht so ausbilden, wie menschliche Gehirnzellen in einem menschlichen Gehirn", sagt Pasca.

Es ist auch unmöglich zu sagen, wie Veränderungen an Neuronen im Labor zu Symptomen einer neuropsychiatrischen Störung führen könnten. Wenn Zellen in einer Petrischale eine Veränderung ihrer Form, ihrer Signalisierung oder der von ihnen produzierten Proteine zeigen, was bedeutet das dann beispielsweise für das Gedächtnis oder gar das Verhalten einer Person?

Um diese Fragen zu klären, transplantierten Pasca und seine Kollegen deshalb nun Organoide in die Gehirne von lebenden Ratten, insbesondere von neugeborenen Tieren. Die Gehirne von sehr jungen Lebewesen durchlaufen während ihrer Entwicklung ein umfangreiches Wachstum und eine "Umverdrahtung" des Gehirns. Neuronen, die in einem so frühen Stadium transplantiert werden, sollten eigentlich die besten Chancen haben, in die eigenen Gehirnverschaltung der Ratten integriert zu werden, so Pasca.

Das Team verwendete auch hier Organoide, die aus Hautzellen hergestellt wurden. Diese Zellen werden wie erwähnt im Labor in Stammzellen umgewandelt, bevor sie dazu angeregt werden, Zellschichten zu bilden, die denen des menschlichen Kortex ähneln – also dem gefalteten äußeren Teil des Gehirns, der Regionen enthält, die unter anderem für das Denken, Sehen, Hören, das Gedächtnis und die Wahrnehmung der Umwelt verantwortlich sind. Dieser Prozess dauert etwa zwei Monate im Labor.

Die so entstandenen dreidimensionalen Organoide wurden dann durch einen Einschnitt im Schädel in die Gehirne von einen Tag jungen Ratten injiziert. Die Organoid-Implantate erreichten so den sensorischen Kortex, eine Region, die eine Rolle dabei spielt, wie (und dass) die Tiere ihre Umwelt wahrnehmen. Innerhalb von vier Monaten zeigten Hirnscans, dass die Organoide auf etwa das Neunfache ihres ursprünglichen Volumens angewachsen waren und etwa ein Drittel einer Gehirnhälfte ausmachten. Die Zellen schienen Verbindungen mit Rattengehirnzellen gebildet zu haben und in die Gehirnkreisläufe eingebunden zu sein.

Die Zellen selbst entsprachen in ihrer Größe zudem eher den Neuronen im menschlichen Gehirn – sechs Monate nach der Transplantation waren sie etwa sechsmal so groß wie die in einer Petrischale gezüchteten Zellen. "Sie sind einfach absolut riesig", sagt Pasca. Experimente mit den Zellen lassen vermuten, dass sie ähnlich wie die Zellen im menschlichen Gehirn arbeiten. "Die Hirnzellen haben damit eine andere Reifungsstufe erreicht", sagt Pasca.

Ihre Integration in die Verdrahtung des Rattengehirns war so gut, dass sie das Verhalten der Tiere steuern konnten. In einem weiteren Experiment hat das Team die menschlichen Zellen mithilfe der Optogenetik gezielt zum Feuern gebracht – eine Technik, bei der Gehirnzellen, die mithilfe von Genen so verändert wurden, dass sie auf optische Signale reagieren, mit Licht bestrahlt werden. Auf diese Weise konnten die Forscher unter anderem beeinflussen, wie oft die Ratten nach einer Belohnung suchten.

"Das ist eine sehr wichtige und sehr coole Studie", sagt Yun Li, Molekulargenetikerin an der Universität von Toronto, die nicht an der Untersuchung beteiligt war. "Die Tatsache, dass die Gruppe in vielen dieser Experimente so erfolgreich war, ist ziemlich außergewöhnlich." Pasca hofft, dass das Studium menschlicher Gehirnorganoide in Ratten den Forschern helfen kann, menschliche Krankheiten besser zu verstehen. In einem anderen Experiment schuf sein Team Organoide aus Zellen von Menschen mit dem sogenannten Timothy-Syndrom, einer seltenen genetischen Störung, die das Hirn und das Herz beeinträchtigt. Diese Nervenzellen sahen anders aus als gesunde – und sie schienen auch anders zu funktionieren. Das Team von Pasca testet derzeit mögliche neue Behandlungsmethoden für das Syndrom an diesen Ratten.

"Das Rattenmodell liefert eine Menge Informationen", sagt Jeantine Lunshof, Philosophin und Ethikerin am Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering an der Harvard University. "Es erhöht den Nutzen von Hirn-Organoiden für die Erforschung menschlicher Gehirnerkrankungen."

Aber sind Ratten mit menschlichen Gehirnzellen immer noch Ratten? Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Pasca, Li und Lunshof glauben, dass sie es sind. Laut Pasca zeigten die Tiere keine Anzeichen für eine verbesserte Wahrnehmung oder menschenähnliche Verhaltensweisen. Und das menschliche Gehirn ist unglaublich komplex – viel komplexer als ein Rattenhirn, selbst wenn es nun einen Teil menschlicher Zellen enthält, sagt Lunshof.

Savulescu weist jedoch darauf hin, dass die Ratten zumindest auf der Zellebene nicht mehr vollständig Ratten sind. "Die Frage ist: Was wären die Kriterien für eine Artveränderung?", sagt Lunshof. Es besteht Einigkeit darüber, dass eine Veränderung der Kognition oder des Verhaltens notwendig wäre, um dies zu belegen. Savulescu hat keine ethischen Bedenken gegen diese Studie, da nur ein kleiner Teil von Zellen implantiert wurde – und zwar in einem Teil des Gehirns, der für die Wahrnehmung der Umwelt zuständig ist und nicht für das Bewusstsein.

In Zukunft sollten sich die Wissenschaftler jedoch über die möglichen Auswirkungen der Implantation größerer Organoide in anderen Hirnregionen im Klaren sein. "Es besteht die Möglichkeit, dass man eine "verbesserte Ratte" schafft, die über größere kognitive Fähigkeiten verfügt als eine normale Ratte", sagt er.

(jle)