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Test Mercedes-Benz EQV: Ist der Elektro-Kleinbus für Reisen geeignet?

Clemens Gleich
Mercedes EQV

(Bild: Clemens Gleich)

Es hat lange gedauert, aber mittlerweile gibt es elektrische Kleinbusse mit reisetauglichen Reichweiten. Der Mercedes EQV zeigt, was geht – und was das kostet.

Elektrische Busse kämpfen mit ihrem hohen Energiebedarf aus der großen Frontfläche. Viele Modelle empfehlen sich daher nur für die letzte Meile im Liefer- oder Handwerkereinsatz. Mercedes bringt mit dem EQV einen Elektro-Kleinbus, der erfreulich reisetauglich auch mehrere hundert Kilometer am Tag fährt.

Gleich vorab: Wer auf die schöne Pkw-Kabine des EQV verzichten kann, findet im Mercedes eVito Tourer Pro denselben Antrieb mit einer typischen Van-Kabine mit Plastik und Minimalradioanlage statt Leder, Wurzelholz und MBUX-Mittelkonsole. Das kostet dann mindestens 64.248 Euro statt die 71.388 Euro des EQV, liegt dann also obendrein noch im förderfähigen Bereich. Preisvergleich: Eine V-Klasse "Edition" in der Langversion oder die Reisemobil-Variante Marco Polo "Activity Edition" (beide mit Hinterradantrieb) gibt es ab unter 52.000 Euro.

Die elektrischen Varianten der Busplattform kommen bisher nur mit Frontantrieb. Der funktioniert gut, wenngleich ihm natürlich auch die Steigfähigkeit eines Hinterachsantriebs fehlt, vor allem mit Ladung. Wie beim Ford Transit PHEV [1] fällt die schwierigere Fahrpedaldosierung beim Rangieren auf. Verdacht: Vielleicht liegt das an der zur Masse nötigen anderen Ansteuerung des E-Motors im Vergleich zu Mercedes-Pkws [2]. Nachgefragt: Ja, ist so. Ob das noch jemand im Van-Bereich elektrisch besser hinbekommt, müssen wir abwarten. Technisch spräche nichts dagegen, geringes Anfahrdrehmoment fürs Rangieren in der Ebene und erhöhtes Drehmoment für den ganzen Rest zu implementieren.

Mit 150 kW Boost-Leistung fühlt sich der Wagen ausreichend motorisiert an. Damit fährt der EQV auf Wunsch bis 160 km/h. Diese Höchstgeschwindigkeit kostet 181 Euro Aufpreis für ein Bit umschubsen. Serie sind 140 km/h Topspeed mit unumgeschubsten Bit. Die Hardware ist bei beiden Geschwindigkeitsvarianten identisch. Die Dauerleistung liegt bei 70 kW.

Der EQV fährt wie ein Bus. Es schaukelt ein bisschen. Die Bremse regelt früh und gibt wenig Feedback: tendenziell etwas früher und ruhiger bremsen. Es gibt beim EQV auch keinen merklichen Elektrobonus mit "tiefer Schwerpunkt blafasel". Er fährt ein bisschen wie eine mit Latten beladene V-Klasse: nicht schlecht, aber auch nicht so, dass man jetzt von "Spaß" sprechen möchte. Der E-Motor ist natürlich toll: kein Schalten, kein kalter Dieselgeruch, kein schepperndes Röhren unter Volllast.

Mercedes-Benz EQV außen (0 Bilder) [3]

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Auch das gesetzlich vorgeschriebene Langsamfahrgeräusch gefiel beiden Testern sehr gut. Zunächst denkt man, es gebe gar keinen Soundgenerator. Er ist aber vorhanden, in mehr als der vorgeschriebenen Mindestlautstärke. Daimler sagte auf Nachfrage, die zwei Lautsprecher vorne und hinten erzeugen ein Geräusch sehr ähnlich des Reifengeräuschs, sodass man es nicht mehr gesondert wahrnimmt. Selbst wenn man es weiß, fällt es nur direkt daneben auf, nur bei Konzentration darauf. Sonst kaum.

Daimler baut das so, damit der EQV vor allem in Ballungsräumen den Leuten nicht mit Gedudel auf die Nerven geht, was ich für den richtigen Weg halte. Wir haben aktuell Gesetze, die BEV und PHEV vorschreiben, dass sie lauter sein müssen als eine ganze Reihe gut gedämmter Verbrennerautos bei Schrittgeschwindigkeit. Der EQV zeigt, dass ihr Geräusch wenigstens nicht nerviger sein muss.

Die Fahrhilfen im EQV liegen nicht auf dem aktuellen Niveau der Mercedes-Limousinen, aber es gibt dennoch keinen Bus, der hier mehr oder Besseres zu bieten hätte. Am besten gefiel mir die automatische elektrische Bremse: Vor Ortschaften, vor Kurven, bergab, bei Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Autobahnausfahrten rekuperiert der EQV meistens rechtzeitig auf Zielgeschwindigkeit. Daran gewöhnt man sich sehr schnell und lässt sich dann vom Auto zu einem runden, effizienten Fahrstil helfen.

Nun war der jedoch nicht der Hauptfaktor bei der Verbrauchsmessung. Nein, der Hauptfaktor waren Temperaturen von 14 bis 18° C, bei denen der EQV praktisch keine Heizung brauchte. Die Messwerte entstanden also unter idealen Bedingungen, gehen Sie abseits von diesen mit Heizung im Kurzstreckenbetrieb lieber von 20 bis 30 Prozent mehr aus.

Auf der Landstraße maß ich 33,8 kWh/100 km brutto bezahlt an der Ladesäule. Das interne Netto-Schätzeisen zeigte dabei 29 kWh/100 km an. Die Fahrt enthielt einige Fahrpedaltritte des Fotofahrers, sodass Sie auf der Landstraße bei entsprechend optimalen Temperaturen bessere Werte erreichen können. Auf der Autobahn mit VMax 130 km/h nach Tempomat maß ich 36,0 kWh/100 km brutto (32 kWh/100 km netto laut Schätzeisen).

Anhand der großen Frontfläche ist das a) ein ganz guter Wert und b) bedeutet er, dass (bei deutscher Richtgeschwindigkeit) Autobahnetappen von über 200 km realistisch sind. Das tolle Navi hilft bei der Ladeplanung. Bonus: Das MBUX kann die Ladesäule freischalten. Malus: Es rechnet nur nach Mercedes "Me Charge" ab, das nur für Ionity feste Preise (29 ct/kWh) bietet und sonst wo gern 70 Cent/kWh und mehr kostet (siehe Bilder an der EnBW-Ladesäule). Immer aufs Preis-Popup achten!

Mercedes-Benz EQV innen (16 Bilder) [5]

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Die tolle Kabine lässt sich Mercedes gut bezahlen. Wem Van-Ambiente reicht, schaut sich den eVito mit gleichem Antrieb an.

(Bild: Clemens Gleich)

Am Schnelllader zieht der EQV bis 110 kW netto in die Batterie, auf der Anzeige der Säule steht dann der Bruttowert inklusive Ladeverluste von (bei mir) bis 119 kW. Das klingt zwar angesichts der großen Batterie nicht viel, dafür hält der EQV die hohe Ladeleistung lange, für einen brauchbaren Durchschnittswert. Zusammen mit MBUX, Schalldämmung und Kuschelkabine empfand ich den EQV als tolles Reiseauto. Wie so oft bietet Mercedes für den EQV zusätzliche Schalldämmung ab Werk an: Das "Akustikpaket" kostet 317 Euro Aufpreis.

Für die Kabine vorne kauft niemand einen Bus. Es geht um hintere Werte, von denen der EQV einige hat. Der Laderaum ist mit dem Mercedes-Schienensystem ausgestattet, auf dem Stühle oder Sitzbänke nicht nur verschoben, sondern auch umgedreht werden können. Beliebt hier: die sogenannte "Konferenzbestuhlung", bei der sich die Passagiere hinten ansehen können. Mercedes verwendet diese immer beim Shuttle-Betrieb der V-Klassen ihrer Veranstaltungen, innerhalb derer ich mehr V-Klassen-Kilometer als Passagier als als Fahrer gefahren bin. Hinten ist es super. Getränkehalter, Stromstecker (12 Volt KFZ-Stecker) und LED-Lichter runden den Sitzraum ab.

Dazu gibt es in der Aufpreisliste einen Tisch mit Getränkehaltern und Stiftmulde (830 Euro), eine zur Liege umlegbare Sitzbank (1073 Euro), eine zweite Schiebetür auf der linken Seite (926 Euro), Panorama-Schiebedach (3368 Euro), Dachreling (476 Euro), drehbare Sitze vorne (839 Euro für beide), Mittelkonsole mit Kühlfach (2542 Euro) und viele andere Dinge, die den EQV zum perfekten Picknicker machen. Dritthersteller bieten weiteres Campingzeug für die Schienen an, zum Beispiel herausnehm- oder -fahrbare Kompaktküchenmodule. Leider fehlt ein bidirektionales Ladegerät à la Hyundai Ioniq 5. 230-V-Schuko-Stecker mit bis zu 16 Ampere wären am EQV perfekt.

Im Testwagen verbaut: plüschiger Teppichboden. Wenn man den einmal schief anschaut, ist er schon unrettbar dreckig. Vertrauen Sie einem erfahrenen Van-Piloten und wählen Sie den glatten Plastikboden. Den kann man abwaschen und er kostet keinen Aufpreis. Es reicht im Freizeitbetrieb schon der Problemkreis "Schienensystem & Sand".

... ist es eine Preisfrage. Anhand der Eckdaten, anhand der Art, wie der EQV Kilometer frisst, die Passagiere hinten beherbergt, da müssten viele E-Bus-Interessierte keine Sekunde nachdenken, ob sie so etwas haben wollen würden: Her damit! Aber ach: Der Preis! Dieses Auto muss seine Nischen finden, und anhand seiner zahlreichen Qualitäten bin ich mir sicher, dass es dort Kunden gibt. Die Van-Gemeinde hofft indes auf VWs kleineren ID.Buzz [7] und dort wohl auf eine für Volkswagen eher untypische Preisgestaltung.

Hersteller Mercedes-Benz
Modell EQV
Motor und Antrieb
Motorart Permanenterregter Synchronmotor
Boost-Leistung in kW (PS) 150 (204)
Dauerleistung in kW (PS) 70 (95)
Drehmoment in Nm 362
Antrieb Frontantrieb
Maße und Gewichte
Radstand in mm 3200 (Langversion: 3430)
Länge in mm 5140 (Langversion: 5370)
Breite in mm 1928
Breite über Spiegel in mm 2244
Höhe in mm 1901 (Dachreling: 50 mm mehr)
Leergewicht in kg ab 2635
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 3500
Akku und Laden
Akkukapazität brutto in kWh 100
Akkukapazität netto in kWh 90
Max. Ladeleistung AC in kW 11
Max. Ladeleistung DC in kW 110
Ladezeit 10 bis 80 % DC in min ~45
Fahrleistungen
Höchstgeschwindigkeit in km/h 140 (optional: 160)
Verbrauch
Testverbrauch in kWh / 100 km brutto 33 bis 36
Verbrauch nach WLTP in kWh / 100 km 26,4
Kleinste WLTP-Reichweite in km 363
Autobahn-Ladeetappen in der Praxis, circa, in km 200
Daten Stand März 2021
Modell Mercedes-Benz EQV 300
Preise der Lesbarkeit wegen auf ganze Euro gerundet
Grundpreis 71.388,00 €
Interessante Extras
Tisch mit Getränkehaltern und Stiftmulde 830,00 €
Klapptisch mit Getränkehaltern und Stiftmulde 708,00 €
Liege-Sitzbank 1.073,00 €
Zweite Schiebetür links 926,00 €
Panorama-Schiebedach 3.368,00 €
Drehbare Sitze vorne 839,00 €
Dachreling 476,00 €
Mittelkonsole mit Kühlfach 2.542,00 €
Luftfederung 2.284,00 €
Mehr Lampen im Fond 68,00 €
Elektrische Servos Schiebetüren, jeweils 952,00 €
Getönte Scheiben hinten  495,00 €
Elektrische Ausstellfenster hinten 422,00 €
Aufsteck-Getränkehalter hinten 56,00 €
Mittelkonsole mit DIN-Schacht 115,00 €
4er-Set Zurrösen Schienen 39,00 €
Zusätzliche Schalldämmung 317,00 €
2x 12-V-Stecker Rückbank 93,00 €
360°-Kamera 788,00 €
Bit umschubsen für 160 km/h 181,00 €
Preisliste Stand März 2021

(cgl [8])


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[1] https://www.heise.de/tests/Ford-Transit-Custom-PHEV-im-Test-Auf-der-Suche-nach-einem-Szenario-4916241.html
[2] https://www.heise.de/autos/getestet-fahrberichte-4986.html?marke=mercedes
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5078314.html?back=5077760;back=5077760
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5078314.html?back=5077760;back=5077760
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5078350.html?back=5077760
[6] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_5078350.html?back=5077760
[7] https://www.heise.de/hintergrund/VW-ID-Buzz-Erste-Spritztour-mit-dem-Lifestyle-Elektro-Transporter-5995999.html
[8] mailto:cgl@ct.de