MIT Technology Review 1/2023
S. 104
Review
Meinung

Es gibt keine Immunschuld

Die aktuelle Infektionswelle ist ein Nachholeffekt. Denn unsere Abwehr wird nicht schwächer, wenn sie eine Zeitlang mal weniger Erregern begegnet.

Veronika Szentpétery-Kessler

Bei der aktuellen Diskussion über die Dreifach-Erkrankungswelle mit Corona, Influenza und Atemwegsinfekten macht auch das kuriose Wort „Immunschuld“ immer wieder die Runde. Dahinter steht die auch von manchen Allgemeinärzten kolportierte Annahme, dass man das Immunsystem wie einen Muskel mit Erregern trainieren müsse. Sonst werde es schwächer und reagiere schlechter auf bekannte und neue Erreger. Lockdown und Maskentragen hätten dieses Training verhindert.

Das stimmt so nicht ganz, sagen Immunologen und andere Experten. Ja, wir haben uns in den letzten beiden Jahren seltener angesteckt. Aber das Immunsystem war dabei nie unterfordert. Es hatte weiter Kontakt zu Viren und Bakterien, Parasiten und Pilzsporen. Es spürte auch weiter krebsverdächtige Zellen auf.