MIT Technology Review 2/2021
S. 101
Fundamente
Jubiläum

Das Erbe der Mir

Vor 20 Jahren wurde die russische Raumstation Mir kontrolliert zum Absturz gebracht. Von den an Bord gesammelten Erfahrungen profitieren Astronauten noch heute.

Für Russlands Raumfahrt war es ein schwarzer Tag – und doch lebt die Mir bis heute weiter. Nicht durch ihre Technik, die war von gestern, sondern durch die Lehren, die Raum­fahrtmanager aus dem Betrieb der Station gezogen haben – sei es bei der weltweiten Zusammenarbeit, bei den nötigen Sicherheitsre­serven, beim Training und der psychologischen Betreuung der Crew. Ohne die Mir wäre die Internationale Raumstation ISS – mittlerweile seit mehr als 20 Jahren dauerhaft bewohnt – nicht möglich ge­worden.

Die Mir im Größenvergleich
Grafik: Thomas Shafee

Es war eine Dienstreise, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Sie war abenteuerlich, teils lebensgefährlich, vor allem aber führte sie mehr als 86000 Mal um die Erde. Vor 20 Jahren, am 23. März 2001, war dennoch Schluss: Hoch über dem Südpazifik tauchte die 1986 gelaunchte russische Raumstation Mir – legendär, aber technisch marode und kaum noch zu finanzieren – kontrolliert in die Erdatmosphäre ein. Der Koloss verglühte. Das Ende einer Ära.

Die US-Astronautin Shannon W. Lucid 1996 an Bord der Mir. 
Foto: NASA

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Mir in den Jahren vor ihrem Absturz keine rein russische Raumstation mehr war: 1993 beschlossen die USA, dem Außenposten zwei neue Forschungsmodule zu spendieren und künftig Astronauten mit Spaceshuttles zur Mir zu bringen. Die Russen, deren einst stolze Raumfahrt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion am Boden lag, nahmen das Angebot – und das damit verbundene Geld – gerne an. Shuttle-­Mir-Programm nannten die Amerikaner ihr Unterfangen, intern firmierte es allerdings als „Phase 1“, als erster Schritt zum Aufbau der ISS.

„Das heutige ISS-Programm ist das Erbe der gesammelten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte“, schreibt US-Ingenieur John Uri in einer Analyse für das Fachmagazin „Acta Astronautica“. So lernten die Amerikaner dank des Shuttle-­Mir-Programms, wie man eine komplexe Raumstation betreibt und welche Vorlaufzeiten für Experimente und das Training der Astronauten nötig sind. Sie entwickelten gemeinsame Vorgehensweisen mit den Russen, sie überwanden sprachliche Barrieren, vor allem aber kulturelle Differenzen.

Auch den Umgang mit ihren Astronauten, die teilweise ein halbes Jahr auf der Mir bleiben sollten, mussten die Amerikaner neu lernen. In der Vergangenheit war das nicht immer gut gegangen. So drehte die Besatzung von Skylab-4, einer frühen US-Station, im Dezember 1973 für mindestens 90 Minuten den Funk ab. Das Trio war überarbeitet, hing ständig hinter dem anspruchsvollen Zeitplan zurück, wurde von der Bodenkontrolle unentwegt angetrieben. Als „Meuterei im All“ ging die Funkstille in die Geschichtsbücher ein.

Auch bei den amerikanischen Shuttle-Flügen, die maximal 17 Tage dauerten, war jede Minute verplant. Bei einer Station wie der Mir, auf der immer wieder ungeplante Reparaturen anfielen und die Crew monatelang bei Laune gehalten werden musste, hätte dies ins Chaos geführt. „Die Erfahrung mit der Mir hat uns gelehrt, dass extrem detaillierte Pläne weder machbar noch sinnvoll sind“, schreibt Uri. Heute haben die Astronauten daher mehr Flexibilität und mehr Freiheiten in ihrem Tagesablauf. Viel Wert legen Missionsplaner zudem auf Freizeit sowie auf Kontakte zur Familie. Meutereien sind seitdem ausgeblieben.

Eher unfreiwillig hat die Mir aber auch die Sicherheitsphilosophie künftiger Raumstationen geprägt. Zwei Brände, ungezählte Stromausfälle und eine Kollision mit einem Raumfrachter, der ein Loch in die Hülle riss, plagten die alternde Station. Anflugmanöver sind seitdem strikt geregelt, Fluchtwege zu rettenden Raumkapseln sind nicht mehr verstellt und die Lüftung zwischen den einzelnen Modulen, die damals Qualm in der gesamten Station verteilte, lässt sich nun auf Knopfdruck abstellen. Auch dürfen keine Kabel mehr durch die Luken zwischen Modulen gelegt werden, so dass die Schotts bei einem Druckverlust augenblicklich geschlossen werden können. Auf der Mir war das noch anders – was die Crew vor gut 20 Jahren fast das Leben gekostet hätte. Alexander Stirn