c't 9/2022
S. 34
Aktuell
Netzsperren

Webgesperrt

Desinformationsembargo der EU gegen russische Staatsmedien

In Windeseile haben die EU-Gremien Sanktionen gegen russische Staatsmedien verhängt. Die rechtlichen Grundlagen sind für Laien schwer durchschaubar, noch weniger die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Eine Einordnung.

Von Prof. Dr. Tobias Keber

Die Europäische Union hat aufgrund der am 24. Februar begonnenen militärischen Invasion Russlands in der Ukraine umfangreiche Finanz- und Wirtschaftssanktionen verhängt. Sie knüpfen zum Teil an restriktive Maßnahmen gegen Russland an, die schon 2014 vor dem Hintergrund der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim angenommen worden waren. Sanktionen sind Rechtsakte , die unter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) des Vertrags über die Europäische Union (EUV) fallen (Art. 23 bis 46 EUV). Ausgangspunkt ist jeweils ein Beschluss des Rates der Europäischen Union (Art. 28, 29 EUV). Dieser sogenannte Sekundärrechtsakt ist in der Regel eine Verordnung im Sinne des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV (Art. 215, 288 AEUV). Die Verordnung gilt deshalb direkt und bedarf für ihre Wirksamkeit keiner weiteren Umsetzung durch nationale Gesetzgeber.

Die Verordnung (EU) 2022/350 des Europäischen Rates vom 1. März 2022 hat jedoch Sanktionen zum Gegenstand, die das bisher übliche Maßnahmenportfolio (Beschränkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, diplomatische Maßnahmen oder das Einfrieren von Vermögenswerten einzelner Personen) um einen bemerkenswerten Aspekt erweitern, der in der Medien- und Netzgemeinde derzeit heftig diskutiert wird: Der Rechtsakt verbietet es „Betreibern“, Inhalte von bestimmten Organisationen „zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.“ Adressaten des Desinformationsembargos sind „Betreiber“, die weder in der Verordnung noch andernorts unionsrechtlich definiert werden. Näher illustriert wird der Betreiberbegriff immerhin dadurch, dass ausdrücklich „Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen“ erfasst werden. Es handelt sich also um einen breiten personellen Anwendungsbereich, der auch Intermediäre (Host Provider) sowie Internetzugangsanbieter (Access-Provider) erfasst. Im Anhang der Verordnung gelistet werden die englisch-, deutsch-, französisch- und spanischsprachigen Inhalte von RT (ehemals Russia Today) sowie Inhalte des Radiosenders und Nachrichtenportals Sputnik, das ebenso wie RT vom staatlichen russischen Medienunternehmen Rossija Sewodnja (Russland heute) betrieben wird.

Das Embargo

Die Verordnung vom 1. März sieht ein Sende- und Verbreitungsverbot für Inhalte von RT und Sputnik vor. Das bedeutet zunächst, dass deren Inhalte nicht gesendet werden dürfen und auch europäische Rundfunkveranstalter Inhalte der beiden Medien nicht übernehmen und weiterverbreiten dürfen. Das Verbot geht aber weit über ein lineares, also an der klassischen Verbreitung der Inhalte durch Rundfunk (über Kabel, Satellit oder IP-TV) orientiertes Verständnis hinaus. Damit sind Suchmaschinen wie Google ebenso adressiert wie YouTube, soziale Netzwerke oder Dienste, die die Internet-Konnektivität herstellen. Selbst Hersteller oder Händler von Mobiltelefonen werden wohl vom Wortlaut erfasst, soweit sie Apps (Anwendungen im Sinne der Verordnung) auf Endgeräten vorinstallieren, mit denen gestreamte Inhalte von RT oder Sputnik empfangen werden können. Das gilt für alle Inhalte, also auch für Texte und Standbilder etwa auf Webseiten. Unter „auf andere Weise zur Verbreitung beitragen“ fallen mithin auch Anleitungen zum Umgehen eingerichteter Sperren.

Innerhalb der Bundesregierung ist Wirtschaftsminister Robert Habeck für die Umsetzung der Sanktionen gegen russische Staatsmedien zuständig.
Bild: BMWK / Dominik Butzmann

Störerhaftung

Für Access-Provider heißt das, dass sie Websperren implementieren müssen. Tatsächlich ist beispielsweise die Webseite von „rt.com“ aus den meisten Netzen heraus derzeit nicht erreichbar. Solche Websperren können IP- oder DNS-basiert umgesetzt werden. Das ist alles andere als neu und in anderem Zusammenhang, namentlich bei offensichtlich urheberrechtswidrigen Streamingportalen, gängige Praxis. Immerhin gibt es bei diesen Sperren durch Internetzugangsanbieter in Deutschland ein geregeltes Verfahren (Clearingstelle Urheberrecht im Internet, CUII), das informationelle Kollateralschäden („Overblocking“) zu vermeiden versucht.

Für Suchmaschinen verpflichtet das Desinformationsembargo zu Anpassungen der Suchergebnisse (Delisting). So liefert die Google-Suchanfrage „Russia Today“ derzeit den Hinweis: „Als Reaktion auf ein rechtliches Ersuchen, das an Google gestellt wurde, haben wir 2 Ergebnis(se) von dieser Seite entfernt. Weitere Informationen über das Ersuchen findest du unter LumenDatabase.org.“

Spannend ist die Frage, ob auch Betreiber eines einzelnen Social-Media-Accounts sanktioniert werden können. Das ist praktisch von entscheidender Bedeutung, denn bereits ein einzelner Retweet oder das Verlinken eines verbotenen Inhalts könnte eine außenwirtschaftsrechtliche Sanktion beziehungsweise ein Bußgeld auslösen. Bei Inhabern von privaten Social-Media-Auftritten wird man den Begriff des „Betreibers“ noch verneinen können. Das setzt zumindest ein wirtschaftliches Tätigwerden voraus. Reichweitenstarke, professionelle Influencer dagegen könnten sehr wohl erfasst werden, wobei auch die eingesetzten Plattformen selbst Verbreitungshandlungen unterlassen und bei Zuwiderhandlung einschreiten müssen.

Der Sache nach geht es bei den dargestellten Konstellationen um Handlungen von Akteuren, die an der eigentlichen Rechtsverletzung , also der Verbreitung von rechtswidrigem Inhalt in Gestalt von Propaganda, nur mittelbar beteiligt sind. Die Inhalte stammen nicht von ihnen selbst, werden aber durch ihre Infrastruktur weiterverbreitet. Auch diese Konstellation ist dem Internetrecht bestens bekannt: Es gelten grundsätzliche Haftungsprivilegien für Access- und Host-Provider. In bestimmten Ausnahmefällen sind sie aber wieder ausgeschlossen. Das geschieht über das Institut der Störerhaftung, mit der auch nicht unmittelbar Verantwortliche in Anspruch genommen werden können, wenn sie in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zur Rechtsverletzung beigetragen haben.

Das unscharf formulierte Desinformationsembargo muss mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot und die Grundrechtskonformität der Maßnahme bei damit befassten Juristen ein Störgefühl auslösen. Auch im Unionsrecht gilt, dass eine Regelung klar und deutlich sein muss, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und sich somit in ihrem Verhalten darauf einstellen können. Weiter ist das Recht auf freie Meinungsäußerung und die grenzüberschreitende Informationsfreiheit Teil des Primärrechts der EU (Art. 11 der Grundrechte-Charta, Art. 6 Abs. 1 EUV) und daher ein Maßstab, an dem auch das Sanktionsrecht zu messen ist.

Der EuGH zu Wirtschaftssanktionen

Somit stellt sich die Frage, inwieweit das Desinformationsembargo vom 1.3.2022 mit diesen grundrechtlichen Vorgaben vereinbar ist und einer gerichtlichen Überprüfung standhalten würde. Rechtsschutz gegen Wirtschaftssanktionen unter der Ägide der GASP gibt es auf zweierlei Weise: Betroffene können direkt gegen die Verordnung mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gericht (EuG) vorgehen (Art. 263 Abs 4. AEUV), oder eine außenwirtschaftsrechtliche Umsetzungsmaßnahme (Bußgeld, Strafe) soll gerichtlich überprüft werden, wobei das dafür anzurufende deutsche Fachgericht das Verfahren eventuell aussetzen und die Rechtssache dem EuGH vorlegen müsste (Art. 267 AEUV).

Praxis dazu existiert: So hat Russia Today Frankreich gerade Klage vor dem EuG gegen die Sanktionen vom 1.3.2022 erhoben (AZ.: T-125/22). Während dieses Verfahren noch nicht entschieden ist, waren Maßnahmen aus dem Jahr 2014 bereits Gegenstand europäischer Rechtsprechung. Im Urteil Rosnet (AZ.: Rechtssache C‑72/15, Entscheidung v. 28.3.2017) äußerte der EuGH hinsichtlich der auch in diesem Verfahren problematischen Bestimmtheit der Maßnahmen zwar Bedenken, unterstrich aber den in diesem Bereich zugunsten der politischen Entscheidungsträger eingeräumten großen Einschätzungsspielräume (Rosneft Rn. 88).

Auf Ebene der Grundrechtsprüfung entschied der EuGH in diesem Fall, dass die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC sowie das Eigentumsrecht nach Art. 17 GRC der sanktionierten Akteure zwar betroffen, letztlich aber nicht verletzt war, da sich das Maßnahmenpaket insgesamt als verhältnismäßig erweise (Rosneft Rn. 148 ff.). Nicht geprüft, weil in dieser Konstellation nicht einschlägig, hat der EuGH in diesem Verfahren allerdings die Implikationen der Medienfreiheiten (Art. 11 GR-Charta). Auch insoweit gibt es einen Präzedenzfall: Das Maßnahmenpaket von 2014 adressierte unter anderem Herrn Dmitri Kisseljow, den Leiter der staatlichen russischen Nachrichtenagentur „Rossija Sewodnja“ und ihn betreffende Finanzsanktionen. In seiner Nichtigkeitsklage hat Kisseljow unter anderem eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit geltend gemacht. Dem ist das EuG nicht gefolgt und wies darauf hin, dass die Meinungsfreiheit unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden kann. Insgesamt erachtete das Gericht den Eingriff angesichts der besonderen Umstände als verhältnismäßig. Das Gericht erörterte auch die Frage, wie weit sich unmittelbar dem Staat zurechenbare Entitäten überhaupt auf die Medien- und Informationsgrundrechte berufen können. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Grundrechte sich gegen Staaten richten, diese also grundrechtsverpflichtet und nicht auf der anderen Seite auch grundrechtsberechtigt sein können.

Grundrechtskonforme Auslegung

Im Ergebnis wird man sich um eine grundrechtsschonende Auslegung des Sanktionstatbestands bemühen müssen. Völkerrechtlich ist Kriegspropaganda nach Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verboten. Auf der anderen Seite ist im Lichte von Art. 11 GR-Charta schon problematisch, dass die Maßnahmen kanalspezifisch und nicht inhaltespezifisch ansetzen. Insoweit würden sie in der Theorie auch die Verbreitung von völlig unpolitischen Inhalten verbieten. Praktisch wird dieses Beispiel bei einem „Nachrichtensender“ indes wohl kaum relevant. Einen smarteren, nur auf bestimmte Inhalte abstellender Ansatz würde man im Bereich der Medienregulierung erwarten, im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik geht der Einschätzungsspielraum der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten wohl grundsätzlich vor.

Andererseits gebieten es auch die Sicherheitsinteressen nicht, Inhalte unter allen Umständen und ihre Verbreitung durch alle potenziellen Akteure zu verbieten. Wenn sich etwa ein Blogger mit der auch bei RT verbreiteten Rede Putins vom 24.2.2022 inhaltlich auseinandersetzt und hieraus zitiert, ist dies im Lichte seiner Medienfreiheit zulässig. Auch für Access-Provider, Suchmaschinen, Videoplattformen und soziale Netzwerke wird man für die Störerhaftung Außengrenzen definieren müssen. Traditionell geschieht dies über das Kriterium der Unzumutbarkeit. Eine solche wird man aber nicht schon deshalb annehmen können, weil es für die Betreiber wirtschaftlichen Aufwand bedeutet, die Sanktionen umzusetzen. Das wird man nur bei ruinöser wirtschaftlicher Last oder struktureller Gefährdung des Geschäftsmodells annehmen können, was im Einzelfall zu begründen wäre. (tig@ct.de)

Rechtsgrundlagen des Medienembargos: ct.de/y3e3

Kommentare lesen (3 Beiträge)