c't 8/2020
S. 12
Aktuell
Corona-Krise

Versäumnisse und Chancen

Die Coronakrise verdeutlicht die Schwächen der deutschen Bürokratie – und beschleunigt die Digitalisierung

Umständliche Abläufe im Gesundheitssystem erschweren den Kampf gegen die SARS-CoV-2-Pandemie. Doch die Krise beschleunigt den ­Um­stieg auf digitale Werkzeuge – auch in anderen öffentlichen Bereichen.

Von Christian Wölbert

Deutschland im Jahre 2020: Ärzte melden Covid-19-Infektionen per Fax, schicken Gesundheitsämter den Infizierten Verhaltensanweisungen mit der Post, erhält das Robert-Koch-Institut die Fallzahlen erst zwei bis drei Tage nach dem Testergebnis.

Es ist seit Langem klar, dass der ­öffentliche Sektor bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Aber erst die Coronakrise zeigt, welche Folgen das haben kann. „Jetzt sehen wir die Versäumnisse der Vergangenheit“, sagt Hannes Schwaderer, Deutschland-Chef von Intel und Präsident der Digitalisierungs-Initiative D21, im ­Gespräch mit c’t.

Zwar ersetzt Software keine Ärztin, keinen Intensivpfleger. Trotzdem wurde in den vergangenen Wochen deutlich, dass digitale Tools im Kampf gegen eine Pandemie eine wichtige Rolle spielen.

Das beginnt bei der Ermittlung der Fallzahlen. Zumindest bis Mitte März ­meldeten die Ärzte neue Infektionen per Fax-Formular den regionalen Gesundheitsämtern, die wiederum abends oder am nächsten Tag die zuständigen Landesbehörden informierten, die wiederum abends oder am folgenden Tag das Robert-Koch-Institut (RKI) in Kenntnis setzten. Ein schneller Online-Prozess? Fehlanzeige. Erst seit Kurzem entwickelt das RKI digitale Werkzeuge, die die Arbeit der Ämter beschleunigen sollen.

Sprechstunde via Webcam

Der Software-Anbieter CGM meldete 11.000 Neuanmeldungen von Medizinern für seine Videosprech­stunden-Software.
Bild: Monika Skolimowska/zb/dpa

Nachholbedarf zeigte sich auch beim Thema Videosprechstunde. Die Technik ist in Ländern wie der Schweiz längst ­etabliert – in Deutschland war sie bis vor ­Kurzem die Ausnahme. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung rechneten die über 170.000 Ärzte und Psychotherapeuten in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 insgesamt nur 1400 Videosprechstunden ab. 

Von Februar an installierten dann tausende Ärzte erstmals ein Videosystem. Sie können per Webcam zwar keinen Rachenabstrich nehmen, aber Patienten beraten. Gleichzeitig senken sie das Risiko, sich selbst anzustecken.

Zahlreiche Unternehmen bieten ihre Videosprechstunden-Software seit Kurzem kostenlos an, zum Beispiel der Softwarekonzern CGM. Kurz nach der Entscheidung meldete er 11.000 Neuanmeldungen von Ärzten und Kliniken für sein System.

„Ich hoffe sehr, dass der Effekt nachhaltig ist und wir nach der Pandemie die richtigen Schlüsse ziehen und diese auch hartnäckig umsetzen“, sagt Elif Kücüktas, E-Health-Expertin des digitalpolitischen Vereins D64. Nicht bei jedem Anliegen sei der direkte Kontakt zum Arzt erforderlich.

Die schnelle Reaktion war auch deshalb möglich, weil Ärztevertreter und ­Kassen schon in den vorigen Jahren die Regularien für Videosprechstunden gelockert haben. Anders sieht es bei Rezepten aus: Sie müssen in Deutschland in der Regel noch auf Papier ausgestellt werden. Viele Menschen begeben sich deshalb auch während der Krise in eine Arztpraxis. Über ein Dutzend EU-Länder haben hingegen längst E-Rezepte eingeführt.

Chance für digitale Bildung

Auch im Bildungssystem hat das Virus ­Digitalisierungsrückstände aufgedeckt. Viele Schüler werden gar nicht unterrichtet. Andernorts wurden zwar Lernplattformen genutzt, sie brachen aber unter dem Ansturm zusammen.

D21-Präsident Hannes Schwaderer wirbt schon seit vielen Jahren für eine Transformation des Bildungssystems: „Die Krise zeigt nun, dass digitales Lernen etwas sehr Wichtiges ist.“ Er hofft, dass die Bundesländer künftig stärker zusammenarbeiten, zum Beispiel beim Thema Cloud. „Einheitliche Lernplattformen würden weniger kosten und mehr leisten“, sagt er.

Geld ist aus seiner Sicht aber nicht das Hauptproblem. Die fünf Milliarden Euro, die der Bund im Rahmen des „Digitalpakts“ bereitgestellt hat, seien durchaus großzügig bemessen. „Der Kulturwandel muss trotzdem noch stattfinden“, betont er. Lehrer müssten entsprechend ausgebildet, Didaktik und Methodik reformiert werden. Ähnlich sieht das der Lehrer und Digitalexperte Dejan Mihajlovic (siehe Interview im Kasten).

Präsenzpflicht im Bundestag

Digitalisierungsrückstände sieht auch Manuel Höferlin, Bundestagsabgeordneter der FDP und Vorsitzender des Ausschusses Digitale Agenda: „Die Verwaltung hat zwar digitale Werkzeuge, aber die Prozesse dahinter sind nicht digita­lisiert.“ 

Auch der Bundestag, der in der Krise wichtige Beschlüsse fällen muss, sei digital nicht handlungsfähig, kritisiert Höferlin. Die Ausschüsse könnten Videokonferenzen abhalten, auch gemeinsam mit externen Sachverständigen. „Aber für jede ­Abstimmung ist Präsenz erforderlich.“

Die größten Hindernisse sieht der Abgeordnete in den „Beharrungskräften“ innerhalb der Verwaltung und in den föderalen Strukturen. Doch die Coronakrise könne ein Umdenken bewirken: „Wer jetzt nicht verstanden hat, dass digitale Transformation in Politik und Verwaltung nötig ist, versteht es wahrscheinlich nie.“ (cwo@ct.de)

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