c't 11/2020
S. 3
Standpunkt

Corona-Zahlen: Erst simulieren, dann fordern

SARS-CoV-2 hat uns alle in eine beispiellose Krise geworfen. Vom Enkel bis zum Opa aus der Risikogruppe weiß keiner, wie er sich jetzt verhalten muss. Infektionsschutz ist das moralische Gebot der Stunde, aber die enormen Einschränkungen des öffentlichen Lebens brechen dem Binnenmarkt das Genick – ein Dilemma, in dem es nur Verlierer gibt.

In den Wirren dieser für alle unbekannten Misere machen sehr unterschiedliche Meinungen und Argumente die Runde. Welche Einschränkungen sind wirklich sinnvoll? Wo darf und sollte es Lockerungen geben? Was sollte zum Ausgleich verschärft werden? Es ist gut und richtig, über diese Fragen zu debattieren. Wer jetzt Lockerungen fordert, sollte sich die Konsequenzen seiner Vorschläge aber vorher vor Augen geführt haben.

Forscher mahnen gebetsmühlenartig vor steigenden "Reproduktionszahlen". Mit der Zahl, wie viele andere ein Infizierter ansteckt, kann und sollte man aber selbst rechnen. Denn solche Berechnungen erlauben einen Blick auf Szenarien für die Zukunft, der nicht von den eigenen Wünschen ­gefärbt ist. Nicht nur Experten können Epidemie-Modelle simulieren. Wir zeigen auf Seite 124 dieser c’t, wie Sie selbst Vorhersagen ­berechnen und Exit-Strategien testen. Das geht mit freier Software und wenigen Zeilen Code.

So grob diese hausgemachten Vorhersagen sein mögen, es lohnt sich trotzdem, mit den Zahlen zu spielen. Sie bekommen einen fundierteren Blick darauf, wie die Epidemie verläuft, wenn Sie selbst mal am Datum für Lockerungen und der ­danach wirksamen Reproduktionszahl R0 gedreht haben.

Mit unserem Python-Code können Sie von den ­Fallzahlen der Johns-Hopkins-Universität auf R0 jeweils vor und nach verschärften oder gelockerten Maßnahmen zurückschließen. Simulieren sie den Verlauf der Pandemie, einschließlich des zweiten und dritten Ausbruchs nach dem Lockern der Maßnahmen.

Erzählen Sie Ihren Freunden und Bekannten am ­Telefon oder im Videochat von Ihren Experimenten. Dadurch wird Ihnen und Ihrem Umfeld klarer, was möglich ist und was unrealistisch. Mit mehr Wissen um die Dynamik der Pandemie werden wir alle eine nüchternere und bessere Diskussion zu den Corona-Maßnahmen führen. So machen wir hoffentlich weniger Fehler bei der Krisenbewältigung.

Pina Merkert

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