c't 20/2017
S. 16
News
Microsofts VR-Offensive

Die Alles-an-Bord-Brillen

Microsofts „Mixed Reality“-VR-Headsets vorab ausprobiert

Microsofts neue Windows-VR-Headsets („Mixed Reality“ genannt) sind nicht nur günstig, sondern vor allem einfach aufzubauen – sie kommen ohne externe Sensoren aus. c’t hat die Modelle von Asus, Acer, Dell, HP und Lenovo bereits kurz ausprobieren können, erste Erkenntnis: Die Technik funktioniert deutlich besser als erwartet.

Der häufigste Grund, warum Virtual-Reality-Headsets für PCs umgetauscht werden, ist die zu komplizierte Installation – sagt Microsoft. Mit selbstentwickelten Windows-Mixed-Reality-Brillen will man das Problem nun lösen. Externe (Kamera-)Sensoren wie bei Oculus Rift, HTC Vive und Playstation VR gibt es bei Microsoft nicht; man muss lediglich ein Kabel in HDMI- und USB-Buchse stecken – und schon kanns losgehen.

Bunt und kantig: Acer Windows Mixed Reality Headset

Dass das Microsoft-System trotzdem einschätzen kann, wo genau im Raum sich Brille und Hand-Controller befinden, ist zwei im Brillengehäuse eingebauten Schwarzweiß-Kameras zu verdanken: Anhand von Boden, Wänden und Möbeln kann sich das System erstaunlich gut orientieren. Microsoft kommen hier die „Spatial-Mapping“-Erfahrungen mit seiner Hololens-AR-Brille zugute: Zwar sind dort vier statt zwei Kameras eingebaut, das Grundprinzip bleibt aber dasselbe.

Blind klappts auch

Anders als erwartet gelingt es den Windows-Headsets sogar, die Hand-Controller auch dann noch einigermaßen zuverlässig im Raum zu erfassen, wenn man sie außerhalb des Kamerabereichs hält – cleveren Algorithmen sei Dank. Das Handcontroller-Tracking nutzt so genannte inverse Kinematik. Das bedeutet in diesem Fall, dass die Software dank eines Anatomie-Modells weiß, welche Hand- und Armbewegungen theoretisch möglich sind und welche nicht.

Strukturiert: Asus Windows Mixed Reality Headset (HC102)

In der Praxis funktionierte das besser als gedacht: In mehreren Probeläufen gelang es uns beispielsweise bei Titeln wie „Space Pirate Trainer“ mit dem „Rucksack-Griff“ (über die Schulter zum Rücken) zuverlässig Aktionen auszulösen. Auch die Position des Kopfes wurde bei unseren Testläufen meist korrekt getrackt – nur einmal waren wir kurzzeitig drei Meter groß.

Fast ganz in klassischem Weiß: Dell Visor (VR118)

In Sachen Mittendrin-Gefühl kann das Windows-Headset mit der Konkurrenz von Oculus und HTC mithalten: Das Headtracking klappt angenehm latenzarm, auch bei schnellen Kopfbewegungen stören keine Schlieren. Die Auflösung ist sogar etwas höher; Microsoft zeigt jedem Auge 1440 × 1440 Bildpunkte, Vive und Rift nur 1080 × 1200 Pixel. Interessant dabei: Während alle großen VR-Systemen bislang ausschließlich OLED-Displays nutzen, setzt Microsoft bei seinen Headsets auf LCD-Bildschirme mit gepulstem Backlight. Ob man den Unterschied im direkten Vergleich wahrnimmt, muss ein ausführlicher Test im c’t-Testlabor zeigen. Hier erhoffen wir uns auch Erkenntnisse zu Unterschieden im Sichtfeld. Bei unseren (kurzen) Testläufen hatten wir das Gefühl, dass die Windows-Headsets ein kleineres Sichtfeld zeigen als Rift, Vive und PSVR.

Warum Mixed Reality?

Ein Mysterium konnten wir schon vorab klären: Warum in aller Welt nennt Microsoft seine Virtual-Reality-Headsets „Mixed Reality“ – und verwirrt damit potenzielle Kunden? Schließlich werden mit Mixed Reality landläufig eigentlich Augmented-Reality-artige Techniken beschrieben. Nach Definition von Microsoft-Sprecher Greg Sullivan sei Mixed Reality ein Spektrum – zurzeit befinden sich auf der einen Seite AR-tendierende Geräte wie die Hololens, auf der anderen Seite sind es eher VR-Geräte wie die Windows-Headsets. Langfristig wird sich laut Sullivan mehr zwischen diesen beiden Polen abspielen, die Formen werden sich vermischen. Microsoft bezieht sich bei der Definition auf ein von Paul Milgram and Fumio Kishino 1994 veröffentlichtes Paper (siehe Link am Ende des Artikels).

Schwarzgrau und schnörkellos: HP Windows Mixed Reality Headset
Robocop: Lenovo Explorer

Was das Ganze noch verwirrender macht, ist die Differenzierung innerhalb der schon erhältlichen VR-Produkte: Headsets, die nur Kopfdrehung und -neigung erfassen (Gear VR, Daydream, Cardboard), befinden sich gemäß der Microsoft-Definition nicht im Mixed-Reality-Spektrum, hierbei handelt es sich demnach um reine VR-Brillen. Alle Headsets, die durch das Positionstracking Elemente der echten Welt integrieren – zum Beispiel die Position des Bodens – seien dagegen Mixed Reality, also neben den Windows-Brillen auch Rift, Vive und PSVR.

Und die Software?

Zum Kasten: Nächstes Windows 10 ab 17. Oktober

Noch ein wenig unklar ist die Software-Frage. Zwar spricht Microsoft von SteamVR-Kompatibilität – was im besten Fall den Zugriff auf eine mehrere tausend Titel umfassende Software-Bibliothek bedeuten würde. Allerdings hat die Vergangenheit gezeigt, dass nicht explizit an das jeweilige Headset angepasste Software Probleme bereiten kann. So laufen zum Beispiel alle eigentlich für die HTC Vive gedachten Programme generell auch auf der Oculus Rift – allerdings funktioniert manchmal die Steuerung nicht optimal, weil sich die Controller der beiden Headsets unterscheiden: Vive nutzt ein Touchpad, die Rift-Controller einen Analogstick. Die Windows-MR-Controller haben beides eingebaut. Microsoft hat bereits angekündigt, dass die SteamVR-Unterstützung zum Start der Headsets noch nicht fertig sein wird. Ob es stattdessen Exklusivtitel gibt, bleibt unklar. Sicher ist zumindest, dass es wie bei Oculus und Vive einen „Hauptmenü-Raum“ geben wird, in dem man sich frei bewegen und VR-Software starten kann. Bei Microsoft heißt der VR-Desktop „Cliff House“ – es handelt sich um ein Haus auf einer Klippe. Genau wie bei der Hololens lässt sich hier auch konventionelle (2D-)Software aus dem Microsoft-App-Store starten. Diese wird als beliebig großes Display angezeigt, das sich frei im Haus platzieren lässt. Microsofts MR-Headsets sollen auch auf eher langsamen Rechnern mit Onboard-Grafik laufen – dann wird allerdings die Bildwiederholfrequenz im Headset auf 60 Hertz reduziert.

Die Controller der fünf Headsets sind bis aufs Herstellerlogo komplett identisch.

Mit einer dedizierten Grafikkarte (ab AMD RX460 oder NVIDIA GTX960) sind 90 Hertz im „Mixed Reality Ultra“-Modus möglich. Die Headsets von Acer, Asus, Dell, HP und Lenovo sollen noch in diesem Jahr in den Handel kommen, offenbar sogar bereits zum Start des Windows Fall Creators Updates am 17. Oktober. Die Headsets der einzelnen Hersteller unterscheiden sich nur in Sachen Gehäuse, die Technik ist identisch, ebenso wie die Controller. Die Preise liegen nach ersten Erkenntnissen inklusive zwei Hand-Controllern zwischen 400 und 450 Euro. Zum Vergleich: Die HTC Vive kostet zurzeit 700, die Oculus Rift 500 Euro, beide inklusive Controller. (jkj@ct.de)