c't 1/2017
S. 186
Story
Der Porzellanpalast
Aufmacherbild
Illustration: Susanne Wustmann

Der Porzellanpalast

Der Porzellanpalast!“ Jochen pfiff durch die Zähne. Er lehnte sich weit vor und bedeutete mir, seinem Blick zu folgen. Tatsächlich erkannte ich in der Tiefe die verschachtelten Türme, Erker, Spitzbögen und Balkone des Palastes, dessen Existenz ich bis dahin für eine besonders liebevoll ausgeschmückte Legende gehalten hatte.

„Sehr schön“, nickte Jochen vor sich hin.

Wir sahen zu dem komplizierten Kleinod hinunter, dessen perlmuttglänzende Flächen in der Sonne schimmerten. Ein Märchenschloss. Man konnte gar nicht anders, als an die Prinzessinnen zu denken, die in seinen Söllern schlummerten, und an die Drachen, die sich in seinen Verliesen ringelten.

Wir ließen unsere Blicke schweifen. Jochen beschattete seine Augen, die in ihren blauschwarzen Höhlen lagen wie unausgebrütete Dracheneier, und beugte sich noch weiter vor, sodass ich fürchtete, er könne von der Rampe fallen. Immerhin saßen wir auf der vordersten Kante des Schanzentisches und baumelten mit den Beinen über dem Abgrund, der sich tausend Fuß tief in grüner Dämmerung verlor.

„Der Fadenfall!“, rief er aus.

Er boxte mich gegen den Oberarm und zeigte auf die gegenüberliegenden Klippen, die sich mit scharf gezackten Abbrüchen vom sanften Hügelland abhoben. Sie waren ziemlich weit entfernt, aber die Luft war von herbstlicher Klarheit. Die Landschaft lag wie eine Tafel in einem farbenprächtigen alten Atlas vor uns, wir konnten mit den Augen darin spazieren gehen.

Auch der Fadenfall war solch ein Mythos, von dem ich nicht geglaubt hatte, ihn jemals zu Gesicht zu bekommen. Jetzt sah ich ihn mit eigenen Augen, wenn auch über einen unüberwindbaren Abgrund hinweg. Der Seidenfluss brach sich schäumend an der Abbruchkante und der Fall stürzte, zu einem kaum noch fingerdicken Strang gebündelt, vor der überhängenden Felswand des Großen Tafelbergs in die Ebene.