c't 6/2016
S. 60
News
Urheberrecht

Unwissenheit schützt nicht

Massenabmahner nehmen Flüchtlinge ins Visier

In Deutschland angekommene Flüchtlinge haben meist größere Probleme im Gepäck als das hiesige Urheberrecht. Das kann fatale Folgen haben: Eine wachsende Zahl von Neuankömmlingen tappt in Abmahnfallen, die sie oder hilfsbereite Anschlussinhaber in juristische Schwierigkeiten bringen.

Mohamad S. liebt Filme. In seiner Heimat Syrien fand er keine Möglichkeit, jeden Streifen in Kino oder Fernsehen zu sehen. Deshalb griff er auf den DVD-Schwarzmarkt und Internet-Tauschbörsen zurück, was in Syrien weder verpönt ist noch juristisch geahndet wird. Im August 2015 ist Mohamad S. nach Deutschland geflüchtet und wohnt mittlerweile in einem Dorf bei Hannover.

Ein Nachbar hat ihm sein WLAN geöffnet, damit er mit der Heimat in Kontakt bleiben kann. Mohamad S. nutzte den Zugang auch, um Filme über ein Programm anzusehen, das die Daten per BitTorrent herunterlädt und weitertauscht. Mitte Februar erhielt der Nachbar eine Abmahnung: 815 Euro soll er bezahlen, weil Mohamad S. im November vergangenen Jahres die US-amerikanische Jugendbuch-Verfilmung „Margos Spuren“ heruntergeladen hatte.

Zum Kasten: Urheberrecht für Neubürger und deren Helfer

Mohamad S. kennt das deutsche Urheberrecht nicht, und er weiß auch nichts von der rigiden Rechtsverfolgung hierzulande. So entstand sowohl für ihn als auch für den hilfsbereiten Nachbarn eine unangenehme Situation. Und sie sind nicht die Einzigen: Nach Informationen von c’t laufen derzeit viele Flüchtlinge beziehungsweise deren Helfer ins offene Messer der Massenabmahner. Mehrere spezialisierte Rechtsanwälte berichten, dass sie in zunehmendem Maße solche Fälle auf den Tisch bekommen.

In den c’t vorliegenden Fällen mahnte durchgehend die Kanzlei Waldorf-Frommer aus München ab – die wohl emsigste Abmahnkanzlei Deutschlands. Sie vertritt mehrere große Filmvertriebe, im Fall von Mohamad S. die Twentieth Century Fox Home Entertainment. Die 815 Euro setzen sich zusammen aus einem behaupteten Schadenersatzanspruch von 600 Euro sowie einem „Aufwendungsersatz“ von 215 Euro.

„Härtefälle”

Unabhängig vom vorhandenen Rechtsanspruch stellt sich unweigerlich die Frage nach der moralischen Komponente. Sollen die meist nahezu mittellosen Flüchtlinge de facto bestraft werden, obwohl sie nicht wissen, dass sie illegal handeln? Twentieth Century Fox Home Entertainment als Rechteinhaber und Mandantin wollte sich auf Anfrage von c’t nicht zu diesen Fällen äußern.

Waldorf-Frommer gab sich auskunftsfreudiger: „Unsere Mandanten können zum Zeitpunkt des Versands einer Abmahnung nicht wissen, welchen sozialen oder wirtschaftlichen Hintergrund der jeweilige Anschlussinhaber hat“, erklärte Rechtsanwältin und Kanzlei-Gesellschafterin Katja Nikolaus. Und: „Sobald uns glaubhaft kommuniziert wird, dass es sich um einen Härtefall handelt, nehmen wir darauf angemessen Rücksicht – bis hin zum Totalerlass der Forderung.“

In der Tat liegen c’t Fälle vor, in denen es abgemahnten Flüchtlingen mit anwaltlicher Unterstützung gelang, den Preis erheblich zu reduzieren. Eine alleinerziehende, mittellose Geflüchtete etwa sollte 915 Euro bezahlen. Eine ehrenamtlich verteidigende Juristin versicherte Waldorf-Frommer, die Begleichung der Forderung führe die Mandantin in die Insolvenz. Die „angemessene Rücksicht“ von Waldorf-Frommer bestand aus der Reduzierung der Summe auf 315 Euro, zahlbar in monatlichen Raten von 10 Euro. (hob@ct.de)