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Was war. Was wird.

Jahrestage gibt es genug. Bei all der Erinnerungsarbeit wünscht man sich dann doch lieber nach Panama, meint Hal Faber, und vertieft sich in die Enzyklopädie.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "Oh, wie schön ist Panama" – der Seufzer manches Heimkehrers oder Glückssuchers angesichts seiner ideenreichen und gar nicht virtuellen, sondern rein vorgestellten Idealwelt, die man gemeinsam erreichen möchte, kommt von tiefstem Herzen. Diese Seufzer sind auch zu hören anlässlich so mancher Geburts-, Todes- oder Jahrestage. Wenigen nur dürfte bewusst sein, dass heute Kerzen als Trauerbeleuchtung und Elton John als Hintergrundmusik Pflicht sind – schließlich wäre eine gewisse Diana Spencer gerne 40 geworden. Hat aber nicht mehr geklappt. Und Jack Lemmon oder Jim Ellis sind auch schon tot, leider. Ob Ellis mit dem, was aus seiner (Mit-) Erfindung Unix User Network unter dem Label Usenet geworden ist, vollständig glücklich war, ist nicht überliefert. Die recht toleranzdemonstrierende Antwort auf das filmische Geständnis von Jack Lemmon, er sei ein Mann, war lapidar: "Nobody's perfect". Die Quintessenz einer der berühmtesten Schlussszenen der Filmgeschichte sollten sich manche User dieses Usenet einmal hinter die Ohren schreiben.

*** Der Jahrestage jedoch gibt es viele; und ob die User im Internet vom Geist der Aufklärung durchdrungen sind wie die Macher der Enzyklopädie, deren erster Band am 28. Juni vor 250 Jahren erschien, mag manch Zeitgenosse dieser kleinen Kolumne in Zweifel ziehen. Vollständig, wie es noch Denis Diderot für sein Projekt beanspruchte, ist das Wissen, das sich im Internet verbreiten soll, auch schon lange nicht mehr – moderne virtuelle Wissensmeere erscheinen gegen Diderots Vorhaben eher wie der Versuch, obskure Verschwörungstheorien in all ihrer vollständigen Pracht zu versammeln. Vor 100 Jahren aber entdeckte Sir Harry Johnston, Gouverneur von Uganda, ein Tier, was seinen Zeitgenossen lange wie unsereins Nessi vorgekommen sein muss: Das Okapi betrat die Bühne der Welt. Das mit den Giraffen verwandte Tier war lange vorher aus Erzählungen der Eingeborenen bekannt, doch traute damals niemand den Pygmäen besonders viel zu. Erst der Blick des weißen Mannes, geworfen am 30. Juni 1901 auf ein Paar Fellreste und die Überbleibsel eines Pygmäenschmauses, machte aus dem Fabeltier ein Okapi. Der Fund begründete einen neuen Forschungszweig, der sich fesch Kryptozoologie nannte. Seitdem jagen die Bio-Ufologen fabelhaft schlaue Wesen wie Nessi, den Yeti oder Jim Morrison. Dabei sollten doch klar sein, dass His Nessness sich längst geschickt verbohrt hat und Yeti unerkannt in einer Band von Verrückten Krach macht. Und wer war noch gleich Jim Morrison?

*** Nun gibt es aber noch mehr der unbekannten Wesen, die mitten unter uns weilen und klaglos ihr Schicksal ertragen. Wann, liebe Leserin, lieber Leser dieser Wochenschau, haben Sie das letzte Mal Ihren Systemadministrator geküsst? Oder zumindest knuddelnd in den Arm genommen? Letzte Woche? Der internationale Tag des Systemadministrators liegt vier Tage zurück; bei einer ebenso kurzen wie unrepräsentativen Befragung durch meine Wenigkeit kann sich kein Admin an herzige Szenen erinnern. 364 Tage im Jahr erfahren die Admins keinerlei Respekt und müssen erleben, dass ihre Arbeit an den Patchkabeln und Management-Konsolen fast vom Image des Müllwerkers geprägt ist. Also sollen es ruhig 365 Tage sein, an denen man sich nicht um den Admin kümmert, auch wenn er immer die richtige Erklärung zur vertrackten Technik für uns parat hat. Wer dennoch nachträglich gratulieren will, kann den Herrn der Netze per Dresscode einfach finden: Wie das Okapi hat er Streifen auf der Hose und einen Hängebauch. Bei der Herrin bin ich mir nicht ganz so sicher.

*** "Es ist nicht gut gegangen." Das könnte man für einen Spruch eines Admins halten, stammt aber vom nahen Verwandten Mumin. Schlichter kann man den Tod nicht ausdrücken und besser den Kindern die Angst vor dem Dunkeln nicht nehmen. In der letzten Woche starb Muminmutter Tove Jansson, was umso schmerzlicher war, als viele Nachrufe Gedankenlosigkeiten über "lustige Flusspferdgeschichten" schrieben. Die finnischen Mumins und Flusspferde! Phhhhh, genauso könnte man sie als Heimtierchen bezeichnen. Natürlich waren die literarischen Vorbilder für Tux alles andere als lustige Flusspferde oder Okapis, kommen die schwermütigen Trolle doch aus der einzigen Mumin-Stadt mit einem Lenin-Museum und einer Ausstellung zur Spionage und Kryptografie. "Geht nach Hause, kleine Kinder," sagte Schnupferich, "oder geht, wohin ihr wollt. Das ist genauso gut."

*** Nicht nach Hause und auch nicht nach Panama, sondern von uns gehen wird e-Cyas, der "beliebteste Avatar des Internet", wie Cyasmutter ID Media einst verkündet hat. Mit 450.000 deutschen Fans ist die "Community" von e-Cyas wahrscheinlich größer als die der Freunde der Muminsippe, und dennoch hat es nicht gereicht zum profitablen Gteschäftsmodell. So wird der Cycosmos geschlossen und der Presse theatralisch berichtet, dass für viele Jugendliche eine Welt zusammenbricht. Nun ja, ich will nicht mehr zynisch werden, wenn Dot.Com-Firmen wie ID Media oder Kabel Pleite gehen. Obwohl, immerhin sprach ein gewisser Philosoph, bevor er Regeln für den Menschenpark ausrief, vom Lob der Kyniker... Dass Firmenboss Peter Kabel jedenfalls das Aus für viele Bobo-Gründungen einmal höchst kennerisch als "Pixelfehler der Neuen Ökonomie" chrakterisierte, hat einen hübschen Sinn: Auch bei den Pixelfehlern der LCDs weiß man nie, wo sie auftauchen.

*** Jedenfalls schnappt sich IBM die Reste des Cycosmos (des Codes, nicht der Fans) und führt sie als Cynigma unter seine Fittiche. "It's a different kind of world", heißt ja der neue Werbeslogan, unter dem IBM in den Post-Dot.Com-Zeiten antritt. Verständlich wird der Satz durch die fordernde Unterzeile: "You need a different kind of Software!" Aber ja doch, gebongt, können wir IBM zurückrufen – und ein Stadion brauchen wir auch in dieser neuen Welt. Warum soll es nur ein AOL-Stadion für den HSV geben, oder einen 3Com Park für die 49ers (der aber wieder Candelstick Park heißt), und ein Telekom-Team für notleidende Asthmatiker? Weil nur der Sport so vulgär sein kann? Muss ich auf das IBM-Festspielhaus in Bayreuth warten?

*** AOL macht glänzende Geschäfte und leistet sich ein Stadion. Microsoft ebenso und bekommt eine ganze Olympiade (deren Vermarktung früher einmal eine IBM-Spezialität war). Überall herrscht gute Stimmung und die Richter sind bekanntlich dufte Kumpel. Gelingt es Microsoft noch, die amerikanische Regierung davon zu überzeugen, dass die Rettung der Wirtschafts nur durch restriktive Copyrights digitaler Güter gelingen kann, ist die Stimmung perfekt. Was bedeutet schon ein SmartTag oder gar keines? Richtig unpassend erscheint da ein warnender offener Brief, den Jim Barksdale an diesem Wochenende an die Medien verteilt, passenderweise durch eine eigens beauftragte PR-Agentin mit dem hübschen Namen Leslie Bottom of Da Bomb: "Ich hoffe, dass die Regierung und die Gerichte, die nun den Fall neu verhandeln werden müssen, nicht die fundamentale Tatsache aus dem Gedächtnis verlieren werden, dass Microsoft für schuldig befunden wurde."

*** Das Wappentier Amerikas ist ein Adler mit weißer Kapuze. Unter A wie Aigle begann vor 250 Jahren im königstreuen Frankreich die bereits erwähnte Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettreszu erscheinen, ganze 28 Bände stark und mit 71.818 Artikeln gefüllt, den Menschen das Denken mit dem eigenen Kopf beizubringen. Unter A wie Aigle findet sich in der Erläuterung der Enzyklopäden nun keineswegs nur die Beschreibung eines Federviehs, sondern die Darstellung eines lächerlichen Vogels namens Heiliger Geist. Dagegen findet sich unter dem Stichwort "Peuple" (Volk) eine leidenschaftliche Beschreibung vom harten Los der Arbeiter. Herausgeber und Kopf der Enzyclopädie war Denis Diderot, ursprünglich nur als Übersetzer angeheuert, der sich dann als Erster die Frage stellte, wie man Wissen mit Gewinn verkauft. Das Okapi taucht bei Diderot nicht auf, nur die Pygmäen als Ypaini, hinter denen sich freilich die Beschreibung der Eucharistie als heidnisches Ritual versteckt. An Diderot erinnerte dieser Woche Alan Kay auf einer Pionierstagung in Bonn. "Die Computerrevolution hat noch nicht begonnen. Es ist wie mit Gutenberg und dem Buchdruck: Die ersten richtigen Seitenzahlen und Verweise, die Bücher nutzbar machten, kamen 50 Jahre später. Die Computerrevolution wird erst dann beginnen, wenn die Menschen sich mit dem Computer in ihrem Wissen bewegen können, wie sich die (gebildeten) Menschen im 18. Jahrhundert in ihrer Encyclopédie bewegen konnten. Und wenn sie das Wissen gegen den Strich lesen können."

Was wird.

Hamburg hat nicht nur das AOL-Stadion, es hat auch eine SPD-regierte Bürgerschaft, die die nächste Wahl gewinnen will. Da trifft es sich bestens, dass AOL und SPD gemeinsam einen Kongress veranstalten und sich sogar auf einen interessanten Titel einigen konnten: "Ein Netz. Eine Welt. Eine Zukunft." Die Reihe darf fortgesetzt werden: Ein AOL, eine SPD. Der Titel ist eine Anspielung auf eine wichtige UNESCO-Konferenz die unter dem Vorsitz des Nobelpreisträgers Sean McBride anno 1980 den Anspruch "Many Voices. One World" forumlierte. Damals schrieb man, dass ungeachtet aller Armutsbarrieren jeder Teil der Welt in jedem Medium ein Recht auf den "Free Flow of Information" haben muss. Seitdem hat man kräftig am "Many" gearbeitet, bis allein das "One" übrig geblieben ist. Sollte sich jemand an den Anglizismen stören? Aber nicht doch: Die Einladung zum Kongress am DESY ist mit "Parteivorstand der SPD" überschrieben und die Unterschrift lautet "Powered by AOL". Und wie man sich bettet, so redet Frau Bildungsministerin Bulmahn mit Herrn Rifkin und AOL-Chef Gerald Levin über die Zukunft des Internet, während Staatsminister Nida-Rümelin vom Hauptamt Kultur mit Jörg Tauss über Neue Kultur, Neues Lernen und die alten Compuserve-Accounts parliert, unter denen beide früher zu erreichen waren. Aber Compuserve wird nach und nach dicht gemacht und der letzte Offline-Reader abgestellt. Spaßig ist da das Gerücht, dass der Connect-Button in der Werbung zum Kongress – er stammt aus der aktuellen AOL-Version – zum Druck der Einladungen und Flyer lizenziert werden musste. Merke: Es gibt immer eine Welt und zwei Geschäftspartner.

Während in AOLburg das Netz strahlt, findet in Benzgart der längste Tag der Welt statt. Vier Tage dauert nun der Linux-Tag, der das Motto "where .com meets .org" trägt. Auch hier ist also Englisch angesagt: "Wo Kohle die Basis trifft" wäre wohl nicht gegangen. Da der Überbau in Hamburg antritt, muss in Stuttgart die Basis in Form zweier Staatssekretärinnen ran und den Tag eröffnen. Wer fehlt, ist Microsoft, das derzeit alle Register zieht, um das Konzept der "Shared Source" unter die Leute zu bringen. Noch hat niemand bedacht, was passieren kann, wenn die Fraktion der Open-Source-Anhänger Microsoft mit dem neuen Konzept beim Wort nimmt... (Hal Faber) / (jk)