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Was war. Was wird.

Während sich der Konferenzblues über die Netzgemeinde legt, sinniert Hal Faber über die Frage, ob Edward Snowden mehr ist als nur ein Datenbefreier und gibt einen Einblick in die statistische Wucht der Heise-Foren.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Vorsicht, Vorsicht und gleich einen Diskl-Eimer aufgestellt: Unter diesem Absatz beginnt ein gar großes und ganz unglaubwürdiges Gejammer von einem, der definitiv nicht Jürgen Kuri heißt. Der ist nach einer anstrengenden Berlin-Reise zur re:publica in den Urlaub geflüchtet. Hach, damit sind wir schon beim Thema.

*** Is this the real life, is this just fantasy? Caught in a landslide, No escape from reality. Die Suche nach Mama geht weiter, auch wenn Kermit die <Entf>-Taste haut und die Gesellschaftskonferenz re:publica vorbei ist. Viele der 6200 Teilnehmer haben ihre Mailadresse im Tausch gegen Bier oder Mate einer Firma überlassen und pflegen jetzt ernüchtert den Konferenzblues mangels Kontaktmöglichkeiten im Laufhof der Station. Einige meinen gar, auf einem Kirchentag gewesen zu sein, wo dem Gott Internet gehuldigt wurde, mit Sascha Lobo als schlecht frisierter Margot Käsmann. Besonders komisch wieder einmal die Leute mit dem klugen Kopf hinter dem Papier, die bei schnappartig-angestrengter Schelte über die Netzgemeinde nicht einmal verstanden haben, dass der Google-Hoax vorab bekannt war.

*** Wer oder was ist eigentlich diese Netzgemeinde, gedacht als autarkes, selbst organisierendes Gebilde? Wir haben da Digitalcourage im Angebot, das D21-Netzwerk oder die Digitale Gesellschaft, ein Mitveranstalter der re:publica. Es gibt die IT-Experten vom Chaos Computer Club, die diese Woche nutzten, um beim Ausschuss Digitale Agenda Auditierung von Software zu forden und eine Incentivierung des CCC. Es gibt politische Netzgemeinden wie die D64 der SPD und Gesche Joost, es gibt Organisationen wie Reporter ohne Grenzen und Amnesty International, die sich zunehmend um Netzthemen kümmern, es gibt Lobbycontrol, campact und Change.org. Es gibt Netzwächter wie den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die parallel zur re:publica mal wieder im Bundestag diskutiert wurde, es gibt Softwächter wie die Free Software Foundation Europe oder den Förderverein für eine Freie Informationelle Infrastruktur. Es gibt Rechtewächter wie Attac, die den "heimlichen Staatsstreich" (Heribert Prantl) namens TTIP verhindern wollen. Es gab mal eine Electronic Frontier Foundation Europe. Es gab sogar eine Partei speziell für Netzgemeindefragen namens Piratenpartei, die sich in diesen Tagen selbst zerlegt.

Und jetzt kommt Lobo und droht mit Netzgemeinde.de.

*** Was es gibt, ist das Netz als zänkischer Haufen. Volles Haus auf der re:publica, als die in Berlin lebende Wikileaks-Aktivistin Sarah Harrison die Masche Glenn Greenwalds kritisiert, die von Edward Snowden überreichten Dokumente scheibchenweise zu veröffentlichen. Glaubt man der Darstellung von Vanity Fair, ist Wikileaks als Trittbrettfahrer aufgesprungen. Man stelle sich vor, diese Netzgemeinde der re:publica hätte den Mumm gehabt, mit 6000 Teilnehmern vor den Bundestag zu ziehen, wo ein Häuflein von 30 Menschen zum Start des NSA-Untersuchungsausschusses Asyl für Edward Snowden forderte. Da hätte man freilich früh raus müssen mit dem müden Fleisch, nicht mal eben vom Bett aus einen Soli-Tweet mit #snowden abschicken. Ist es nicht ohnehin so, dass Snowden einstimmig als Zeuge berufen wurde und nur noch einreisen muss? Gähn. Ist Snowden mehr als ein Datenbefreier? Ist er vielleicht der freundliche Anfang von Allem, dass wir uns an die Allgegenwärtigkeit der NSA gewöhnen müssen?

*** Rappelvoll war es auf der re:publica – in einem kleinen Vortragsraum –, als zwei gestandene Redner auftraten, die nichts mit dem üblichen Netz-Mimimi zu tun hatten. Ja, liebe noch verbliebenen Leser dieser kleinen Wochenschau, diesmal ging es um Euch und die ganze wilde Welt der Heise-Foren, die von der Wikipedia nicht als Online-Community anerkannt wird, weil sie mit fast 500.000 Mitgliedern zu klein ist. Vom großen Raviolitest von atom3000 ging es bis hin zum artgerechten Umgang mit Trollen. Heise-Leser lieben eben ihre Heise-Foren. Große Redeschlachten werden hier geschlagen über Gott und die Welt und Linux, aber auch Erkenntnisse vermittelt, Gedichte veröffentlicht und Ehen gestiftet. Dutzende von Artikeln, die ich für den Newsticker geschrieben habe, verdanken sich den Hinweisen der Regulars.

*** Momentan gibt es ja eine Diskussion über das mögliche Umschalten zwischen Thread-Darstellung und flacher Darstellung, wie es die Blogger mögen. Das mag jeder Nutzer für sich selbst entscheiden und entsprechend umstellen. Aber das Herzblut! Während einige Vertreter der OTF-Gemeinde wegziehen wollen, zeigen sich andere sehr hartgesotten. Solche Auseinandersetzungen gibt es und wovon darüber in Berlin berichtet wurde, das ist nunmal die offene Diskussionskultur im Netz, die nur durch offene Foren gefördert wird und nicht durch kleinmütges Herumeiern im Stil von: "Kommentare nach 18:00 geschlossen" oder "Kommentare wegen Europawahl nicht möglich". "Ein lebendiges Forum ist auch in der Lage, sich selbst zu regulieren", sagte Jürgen Kuri.

*** Wie bei den Jahresend-Wochenschauen üblich, zunächst einmal ein paar "nackte" Zahlen für interessierte Leser. Seit Eröffnung der Foren im Jahre 1999 sind 24,2 Millionen Postings in 266.000 Foren abgesetzt worden, von insgesamt 499.156 registrierten Heise-Foristen. Möglicherweise stimmt die Zahl nicht genau, weil es Doppler-Effekte gibt, doch als Pi-Daumen-Richtwert-Mal reicht es aus. Von den 24,2 Millionen Postings wurden 68.224 gesperrt, was leistungsfähige Spezialrechner zur aktuellen Sperrquote von 0,28 umrechnen. Ganz nebenbei: Die Spitzenzeiten des Heise-Forums sind mittags, wenn die Bäuche voll sind und der Verstand Auslauf braucht. Sechs Postings pro Minute fallen dann an.

*** Nun sind die Zeiten leider vorbei, als sportliche Poster Erster werden wollten, was besonders bei dieser kleinen Wochenschau begehrt war, gewissermaßen als Ergänzung im Verein mit anderen Potenzförderungsmitteln. Dennoch gibt es weiterhin Trolle aller Art, was nicht das Schlechteste ist. Es gehörte zu den großen historischen Momenten dieser re:publica, als eine staunende junge Netzgemeinde einen Screenshot vom Treiben des größten Trolles Analüst zu sehen bekam, gemessen auf der nach oben offenen Penkoskala.

Snowden könnte, wenn man wirklich wollte, schon nächste Woche nach Deutschland kommen und politisches Asyl bekommen. Die Interpol-Statuten verbieten jede Hilfestellung bei politisch motivierten Delikten.. Klar hätte er sich geschickter verhalten und wie sein ehemaliger Chef Keith Alexander mit seinem Knoff-Hoff einen lukrativen Beratungsjob für die Finanzwirtschaft antreten sollen, so als politisch korrektes Whistleblowing. Nach wie vor gibt es zwar keine Beweise dafür, dass die Datensammelei der NSA wirklich Terroristen aufspürte wie neue Anlagemöglichkeiten, aber man weiß ja nie. Wo es doch schon sooo gefährlich ist nur die Berichte über die Leaks zu zitieren, im Land der Freiheit. Und bei uns so? Da organisiert die bisher noch nicht erwähnte Wau Holland Stiftung einen Whistleblower-Talk mit dem ehemaligen leitenden Stasi-Analytiker, der auf US-Geheimdienste spezialisiert war.

Das war's für heute am schönen Muttertag. Ups, vergessen? Wie wäre es mit einem kleinen Supportgeschenk für Mama? Blümchen vorbeibringen, Rechner entwanzen, geschmackvolles Wallpaper installieren und niemals vergessen: "Immer kommt es von Herzen." (anw)