Tulpen aus Cyberland

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Bert Ungerer

Das zweite Quartal 2000 wird vielen E-Enthusiasten und Internet-Investoren in unangenehmer Erinnerung bleiben. Die Zeichen der Börse standen gerade wieder auf ‘Rallye’, da musste sich mit Sportmodehändler Boo.com ausgerechnet eine ‘Dot.com’-Firma für zahlungsunfähig erklären, bevor der Laden überhaupt richtig lief. Kurz darauf legte www.direktkauf.de seine Warenkörbe an die Kette. Dann traf es den Online-Modeverkauf bei C&A, und Karstadt Quelle konnte seinen Kursrutsch selbst durch die Ankündigung einer Internet-Strategie nicht bremsen - wenige Monate zuvor eine undenkbare Reaktion der Börse. ‘New’ und ‘Old Economy’ in neuer Eintracht - warum auch sollten die Konsumenten heute mehr kaufen als früher ohne das Internet?

Ob die Ziele oder die Verluste zu hoch waren - die Finanzwelt blieb angesichts solcher Ereignisse bisher relativ gelassen. Zwar hatte zum Beispiel Boo.com umgerechnet über eine Viertelmilliarde Mark verbraten und weitere fast 60 Millionen an Schulden angehäuft. Doch auf dieser Pleite bleiben lediglich private Geber von Wagniskapital und andere Gläubiger sitzen, denn noch war Boo.com nicht an die Börse gegangen.

Ein schwacher Trost für manch einen Anleger: Viele Internet-Werte, die diesen Schritt schon hinter sich haben, sind bereits mit 90 und mehr Prozent Abschlag vom Höchststand bestraft worden - und seien die Ideen dahinter noch so genial. Offenbar zählen mittlerweile wieder Gewinne oder zumindest konkrete Aussichten darauf. Analysten reichen bereits Namenslisten mit börsennotierten Pleitekandidaten herum. Zu viele Unternehmen bestehen neben dem Schuldenberg nur aus einer Idee, und die ist oft lediglich von einem etablierten Marktführer abgekupfert.

Zurzeit gerät fast in Vergessenheit, dass es Internet-Unternehmen gibt, die satte Gewinne einfahren. Wie beim Goldrausch verdienen allein die Ausrüster der Goldsucher sicher und richtig gut - in diesem Fall die führenden Hersteller von Bausteinen der Kommunikationsinfrastruktur. Das ist übrigens nicht nur der allgegenwärtige Vernetzer Cisco. Um einige weitere Komponenten kommen die unzähligen Internet-Start-ups nicht herum: Ohne Server, Speicher, Datenbanksoftware, Sicherheitslösungen, Systemmanagement, Kommunikations-Chips, optische Komponenten und drahtlose Datenverbindungen wäre das Internet in der heutigen Form nicht vorstellbar. Während sich der Aktienkurs von Cisco in den letzten zwölf Monaten ‘nur’ verdoppelte, haben sich diejenigen anderer Schaufel-und-Pfannen-Provider im selben Zeitraum sogar noch wesentlich besser entwickelt und in den Frühlingsturbulenzen relativ gut gehalten.

Doch Vorsicht ist selbst bei derartigen Internet-Gewinnlern ratsam: Die meisten Pleiten von .com-Firmen stehen noch bevor, und das wird deren Ausrüster, Anleger und das Investitionsklima insgesamt schädigen. Wer jetzt schon das Platzen der Internet-Blase beklagt oder auf Schnäppchenjagd geht, jammert oder investiert auch nach den jüngsten Kursrückgängen immer noch auf selten hohem Niveau. Eine Spekulations-Euphorie geht zu Ende, wieder einmal. Ob sich daraus eine Wirtschaftskrise entwickelt, wie es in jedem Jahrhundert ein paar Mal vorkommt, das ist noch offen. Ein vergleichender Blick auf das Ende der Tulpenzwiebel-Hausse anno 1637 ist zumindest nicht abwegig. (un)